10. Kapitel

Noch während der Reise zur Erde hatte Alina – stets ihr anderes Vorhaben im Kopf – umdisponiert, als man ihr mitteilte, dass das Marsobservatorium im texanischen Austin, in dessen renommierten Institut sie eigentlich die Untersuchungen durchfuhren sollte, wegen Kapazitätsmangels den Termin zu verschieben beabsichtigte. Sie griff den Vorschlag, auf das europäische Berlin auszuweichen und dort in den Humboldt-Laboratorien zu arbeiten, sofort auf; schließlich wies die Information zum Verbleib des möglicherweise richtigen Milans ebenfalls auf die Alte Welt hin. Es wäre umständlicher gewesen und hätte wesentlich mehr Zeit gekostet, von Amerika aus zu recherchieren und ans Mittelmeer zu reisen, falls sich die Auskunft als richtig herausstellte. Und sie konnte vom Raumhafen aus den Ungarshuttle nehmen, den Zubringer nach Budapest, und von dort war es ein Katzensprung nach Berlin.

Nach fast einem Tag auf Reede dockte die CALIFORNIA am Orbitalhafen an.
Obwohl sich Alinas eine beträchtliche Ungeduld bemächtigt hatte, die, je näher sie der Erde kamen, beinahe ins Unerträgliche stieg, genoss die Rückkehrerin den unfreiwilligen Aufenthalt im Orbit. Es war schon immer wieder ein Erlebnis, den Heimatplaneten vorüberziehen zu sehen, sich der großen Leistung der Menschen und gleichzeitig ihrer Beschränktheit bewusst zu werden. Beides offenbarte sich Alina in aller Deutlichkeit, wenn sie in ihre unmittelbare Umgebung sah, wo sich nicht nur der Raumhafen mit all seinen bizarren Elementen und der doppelt so große, noch unfertige Anbau zur Kapazitätserweiterung ausbreiteten, sondern, wenn sie den Blick in die Schwärze des Kosmos richtete, millionenpunktig Sonnen…
Alina hatte insofern Glück, als sie einen Platz im Vormittagsshuttle bekam. So konnte sie den Anflug, gleichsam aus den Alpen heraus, mit Sicht auf den Balaton und Budapest, in die Weite der Puszta hinein, genießen.
Es dauerte eine Weile, bis Alinas Anteil an der Fracht aussortiert, in den Hermetikcontainern verstaut und die Bürokratie befriedigt waren. Glücklicherweise wurde ihr gestattet, die angeordneten vier Wochen Quarantäne in den entsprechenden Einrichtungen Berlins besorgen zu lassen. Sie informierte den dortigen Laborleiter, dass sie 14 Tage vor der Freigabe der Proben anreisen und ihre Tätigkeit vorbereiten würde, womit sie auf Entgegenkommen stieß.
Von Pusztamonostor aus, dem durch die Nähe des Kosmodroms aufgeblühten Städtchen, fuhr Alina mit einem Mietwagen nach Budapest, eigentlich in der Absicht – da sie ohne ihre Proben mit der Arbeit nicht beginnen konnte und somit über viel Zeit verfügte –, sich die geschichtsträchtige Stadt anzuschaun, zu bummeln. Sie mietete sich im Hotel „Kristall“ in unmittelbarer Nähe der Fischerbastei ein, erfreute sich am herrlichen Panoramablick über die Donau hinweg nach Pest, spazierte durch die Altstadt und genoss den Luxus der Herberge. Allein – bereits am zweiten Tag wusste sie, dass ihre innere Unruhe, ihre Spannung und auch die Ungewissheit, die mit ihrem Vorhaben zusammenhingen, ihr einen längeren Aufenthalt nicht gestatten würden.
Die Luftverbindung erwies sich als ungünstig. Nur zweimal wöchentlich wurde die Strecke Budapest-Pula bedient, und sie hätte weitere drei Tage zugeben müssen.
Alina überprüfte ihre nicht allzu üppige Barschaft, mietete dennoch eine der teuren Eisenbahn-Reisekabinen, die jedwedes Umsteigen ersparten, Bequemlichkeit boten und einen Panoramablick ins Land gestatteten, schließlich ging die Reise über Wien, die Alpen, Ljubljana, Triest und die Küste der Adria entlang – Landschaften und Städte, die Alina nicht kannte, die aber vom Hörensagen ihre Vorstellung geprägt hatten. Außerdem, so dachte sie, nach den öden Weiten des Mars würden ihr die Schönheiten der alten Erde gut tun.
Es herrschte freundliches Wetter und, mit Ausnahme in Wien, naturbelassenes.
Am Abend fuhr der Zug in Triest ein, und da Alina ihr Ziel, Pula, nicht mitten in der Nacht erreichen wollte, hatte sie Reisepause gebucht. Sie verließ ihre Kabine zu einem Spaziergang, den sie jedoch bald abbrach, und sie kalauerte: der Name der Stadt sei in der Aussprache falsch betont! Nicht Triest, sondern Trist müsste der Ort heißen. So entschloss sie sich, beizeiten zu ruhen. „Wer weiß, was auf mich morgen zukommt…“, sagte sie sich.
Aber lange floh Alina der Schlaf, obwohl sie sich unentwegt einredete, es sei dieses Wiedersehn mit Milan ein reiner Freundschaftsbeweis, und natürlich wolle sie auch ihre Neugier befriedigen und erfahren, weshalb er seinen ursprünglichen Plan aufgegeben und auf die 50 Jahre Schlaf verzichtet hatte. Außerdem war sie sehr gespannt, wie er sich in den immerhin fast drei Jahren verändert haben würde. Und, das Wichtigste, wie sie gegen sich behauptete: Es galt, zwei Wochen Zeit totzuschlagen. Tiefere Gründe für ihren Wiedersehenswunsch, anknüpfend an das, was war, wollte sich Alina nicht eingestehen.
Sie legte sich gedanklich zurecht, wie sie vorgehen wollte, um Milan auf seiner Insel aufzuspüren. Darüber schlief sie ein.
Irgendwann nachts wachte sie auf, ihr war, als dringe von draußen Stimmengewirr in ihre Kabine, obwohl die Fester Lärm hervorragend dämmten. Sie verspürte noch die leichten Erschütterungen, wie sie beim Rangieren der Kabine entstehen. Beruhigt schlief sie wieder ein.
Nach der Morgentoilette erwartete Alina einigermaßen hungrig das Frühstück. Als dieses nicht serviert wurde und der Abfahrtzeitpunkt um mehr als zehn Minuten überschritten war, wurde sie unruhig. Sie öffnete das Fenster und stellte befremdet fest, dass sich der Zug mit ihrer Kabine in einem äußerst tristen Areal eines Güterbahnhofs auf einem Abstellgleis befand. Sie beugte sich hinaus und bemerkte, dass eine größere Anzahl von Reisekabinen das Schicksal der ihren teilte. Dutzende Meter linker Hand standen einige offenbar erregt debattierende Leute neben dem Gleis.
Alina betätigte mit aufkommendem Frust den Reiseinformator und erfuhr, lapidar vorgetragen, dass sich aus technischen Gründen die Weiterfahrt um zwei Stunden verzögern könne; statt des Frühstücks werde in Kürze ein Reisepack ausgehändigt. Man bitte um Verständnis. Und die phlegmatische Stimme brach ab.
In Alina stieg zunehmend Ärger an, und nach und nach war sie geneigt, der Eisenbahn die Schuld zuzuweisen, falls aus dem Treffen mit Milan nichts werden würde. Wütend rief sie die Information erneut: „Welcher Art, verdammt nochmal, sind die technischen Gründe und wann genau geht‘s weiter, will ich wissen! Ich versäume Termine!“
„Bitte beruhige dich; wir tun wirklich unser Möglichstes.“ Die Worte kamen nunmehr um Nuancen lebhafter.
„Das ist offensichtlich nicht genug! Was also ist los?“ Alina bemühte sich, ihren Ton scharf zu halten. „Was schon bringt es, sich mit der Kuh anzulegen“, dachte sie.
Die andere zögerte. „Wir haben eine, eine – Arbeitsverweigerung.“
„Was habt ihr?“ Alina wollte ihren Ohren nicht trauen.
„Die, die Dispatcher bedienen gegenwärtig die elektronische Rangiersteuerung der Reisekabinen nicht, weil…“, sie brach ab.
„… bedienen sie nicht – weil was!?“
„Ein Exempel gegen…“
„Na!“
„… gegen die Erstklässler.“
Alina schwieg betroffen. Ein Streik also gegen die so genannten Bessergestellten. In diesem Falle gegen jene, die sich eine Reisekabine leisteten. „So ein Schmarren, ein blöder!“, rief sie eingedenk ihrer pekuniären Lage. „Und was wird nun?“
„Wir steuern manuell, in wenigen Minuten sind wir so weit. Allerdings, du verstehst…“, die Dame ließ einigen Eifer erkennen, „die Anschlüsse müssen nunmehr neu gecheckt werden; Verspätungen werden bleiben.“
„Verdammter Mist!“ Doch Alina mäßigte sich. „Kommt so etwas öfter vor?“
„In der letzten Zeit schon.“
„Und – wie verhält sich die Bahngesellschaft gegenüber den betroffenen Reisenden?“
Die Frau antwortete nicht sogleich. „Es ist höhere Gewalt“, sagte sie dann. „Die Unterwegsversorgung ist gesichert.“
Wie zur Bestätigung rutschte der angekündigte Reisepack in die Entnahmebox.
„Na fein“, sagte Alina sarkastisch und unterbrach die Verbindung. Sie entnahm dem Behälter den Frühstücksersatz, biss wütend in ein Sandwich, warf sich aufs Bett, aber der Frust ließ sie keine Ruhe mehr finden.
Alina erreichte Pula zum Mittag. Schon von unterwegs hatte sie des Öfteren versucht, über Mobilfunk Verbindung zu dieser Großbaustelle auf der Insel Unije zu erlangen. Sie bekam stets die lakonische Antwort, dass dorthin über die normalen Netze keine Anschlüsse bestünden; sie möge sich um eine lizenzierte Einwahl bemühen.
Zwar ein wenig enttäuscht, aber nicht entmutigt ließ Alina sich zum Hotel „Ulika“ in der Nähe des Hafens fahren, machte sich frisch und begab sich auf Erkundung.
Augenblicke lang vergaß Alina den eigentlichen Grund ihres Aufenthalts in der Stadt. Sie genoss den lauen, sonnigen Nachmittag, erfreute sich am bunten Menschengewirr, schnupperte den Geruch des Hafens und belustigte sich am scheinbaren Chaos der unzähligen ankernden Sportboote.
An der in leichtem Bogen verlaufenden Hafenpromenade standen kleine Häuser. Die mehr als kopfgroßen Steine des groben Kalksteinpflasters glänzten von zahllosen Schritten, von bloßen Füßen der Sklaven, den Sandalen der Römer, Soldatenstiefeln, den folternden Pfennigabsätzen, Leder- und Gummisohlen, von den Hufen der Pferde, eisenbeschlagenen Rädern, schleichenden Autoreifen. Nichts hat dem Stein geschadet, eher zu seinem Glanz beigetragen, zu seiner überdauernden Erhabenheit.
Alina wusste vom Kolosseum in Pula, das dem in Rom kaum nachstand, und sie nahm sich vor, es mit Milan aufzusuchen.
Eine Weile spazierte Alina an der Kaimauer auf und ab, musterte flüchtig in Ständen ausgelegte Waren, wich Passanten und Gruppen von Touristen aus.
Dabei aber hielt sie Ausschau nach einem Wasserfahrzeug, das sie zur Insel bringen könnte.
Endlich sah sie in unmittelbarer Nähe einer Steintreppe, die zum Wasser hinunterführte, einen jungen Mann an Bord eines Kajütbootes mit einer Hochseeangel hantieren. Sie stieg hinab, sah ihm eine Weile zu, bis er ihrer gewahr wurde und ab und zu misstrauisch zu ihr herübersah.
„Hallo, Kapitän“, grüßte Alina. „Ich suche einen, der mich übers Wasser transportiert. Könntest du das tun?“
Er sah sie an, lächelte. „Kommt darauf an. Normalerweise nicht.“
„Worauf kommt es an?“ Alina bemühte sich um einen leichten, eher flapsigen Tonfall.
„Ob mir der Passagier sympathisch ist“, er musterte Alina von oben bis unten, „welche Gegenleistung er bietet, wann und wohin er will.“
„Bisschen viel auf einmal. Also…“ Alina nahm die Pose einer römischen Statue, eines tanzenden Fauns ein, ausgegraben in Pompeji, nachgebildet aus Gips und aufgestellt in Mutters Rosenrabatte. „Sympathisch müsste ich dir doch sein, oder? Mit der Gegenleistung sieht‘s allerdings schon schlechter aus. Drei Bons? Wann? So bald wie möglich, wobei ich an keinen festen Zeitpunkt gebunden bin. Und wohin? Zur Insel Unije.“
Der Mann lachte auf, legte seine Angel ab und setzte sich heftig auf die Bordwand seines Bootes, sodass es ins Schaukeln geriet. „Unije“, echote er. „Sie will mit mir nach Unije.“
„Was ist daran so lustig?“
„Dass man dort nicht hinkommt. Als normaler Mensch nicht und überhaupt.“
Alina stutzte. „Weshalb, um alles in der Welt“, dachte sie, „sollte man nicht…?“ Laut behauptete sie: „Mich lassen sie!“
„Dich! Du bist wohl nicht von hier?“ Der Mann betrachtete sie mit schief gehaltenem Kopf; das Lachen hatte er aufgegeben.
„Nein. Aber zur Insel muss ich. Ich bin dort angemeldet“, schwindelte sie. „Was ist nun – fährst du mich?“
„Wenn du angemeldet bist, warum holt man dich dann nicht ab wie andere? So läuft das nämlich bei denen.“
„Verdammt“, dachte Alina. „Mein – Bruder arbeitet da, ich will ihn überraschen“, beteuerte sie.
„Der überraschte Überrascher. Da kommst du nicht hin“, wiederholte der Mann.
„Was bauen die dort?“ Alina versuchte, im Gespräch dem Mann näher zu kommen. Außerdem war es schon interessant, was man hier vor Ort, über die Informationen im Netz hinaus, von diesem HAARP-Unternehmen wusste. Schließlich würde es auch eine Gerüchteküche geben.
„Die bauen ein riesiges Kraftwerk, um den Strompreis zu manipulieren. Erst machen sie die Energie billiger, bis andere Erzeuger in die Knie gehen, dann diktieren sie. Das kennt man doch.“
„Die anderen werden nicht schlafen.“
„Deshalb passen die ja auf, die Luchse, und lassen sich nicht in die Karten schaun.“
„Ich glaube nicht, dass es so schlimm ist. Sag, dass du nicht willst, und ich such mir eben ein anderes Boot.“
„Pass auf: Übermorgen fahre ich nach Losinj. Man kommt unmittelbar an Unije vorbei. Nehmen sie dich an, gut, wenn nicht, müsstest du entweder mit mir kommen – ich bleibe drei Tage – oder eine andere Rückfahrmöglichkeit suchen.“
„Na, das ist doch ein Wort.“ Dennoch zögerte Alina: „Zwei Tage warten – sollte es keine andere Möglichkeit…“ Laut sagte sie: „Kann ich es mir überlegen?“
Der junge Mann zuckte mit den Schultern. „Ich fahre übermorgen Punkt neun Uhr ab. Wenn du da bist, bist du da.“
„Okay – jedenfalls danke ich dir.“ Alina hob grüßend die Hand und wandte sich zum Gehen.
„He – hast du heute Abend schon etwas vor?“, rief er ihr nach.
Sie wandte sich lachend um. „Ja“, rief sie zurück und winkte heftiger.
Als Nächstes suchte Alina das Hafenoffice auf; denn sie traute den defätistischen Aussagen dieses Bootsmenschen nicht. Die Behörde aber hatte um diese Zeit bereits geschlossen.
In einer Kneipe sprach sie einige Leute, die sie für Schiffer hielt, bezüglich ihres Anliegens an. Sie erntete neben misstrauischen Blicken und Zurückhaltung ausschließlich strikte Ablehnung, sodass ihr das Angebot des jungen Mannes fast schon wie der berühmte Strohhalm vorkam.
Der behäbige Mann in der Behörde tags darauf schüttelte bedauernd den Kopf. Außer dass man den Fahrzeugen der Company die üblichen Genehmigungen erteile, habe man mit denen nichts zu tun und natürlich auch keinerlei Einfluss auf die Beförderung von Gütern oder gar Passagieren.
Einen letzten Versuch startete Alina, als sie im allgemeinen Schiffsgewirr eines ausmachte, das „Delfin“ hieß und unter dem Namenszug in kleineren Buchstaben die Aufschrift „Unije-Company“ trug. Sie sprach einen Mann an, der über der Reling lehnte, tatsächlich eine qualmende Pfeife im Mund hielt und so tat, als wolle er im trüben Wasser des Hafenbeckens Adantis entdecken. Dieser schüttelte auf Alinas Frage nur nachhaltig den Kopf und knirschte nach einer längeren Pause zwischen den braunen Raucherzähnen ein „sorry“ hervor.

Bereits eine halbe Stunde vor dem genannten Zeitpunkt befand sich Alina auf der Kaimauer. Der Tag zeigte sich regnerisch und kühl.

Es wurde 9 Uhr, 9.25 Uhr, allein – der junge Mann ließ sich nicht blicken. Was Alina jedoch hoffen ließ: Das Boot lag abgedeckt am Steg.

Dann, schon nach halb 10 Uhr, hörte sie hinter sich ein fröhliches „Hallo“. Leger, einen Rucksack über der linken Schulter, kam er angeschlendert, reichte ihr jovial die Hand. „Nichts anderes gefunden, was?“, bemerkte er ein wenig rechthaberisch. Dann ließ er ihr die Treppe hinab den Vortritt. „Ich heiße übrigens Nikola, aber alle rufen mich Nik. Du?“

„Alina – mit Betonung auf dem vorderen A und nicht auf dem I.“
„Hm, Alina“, er betonte übertrieben und lachte, „seltener Name. Vorsicht!“ Er bugsierte sie über den kleinen Steg. „Augenblick!“
Nik löste die Persenning und verstaute sie. „Deinen Pack tu am besten in die Kajüte, es könnte feucht werden.“
Er stieg zurück auf die Mole, warf Brett und Haltetaue ins Boot und sprang selbst hinein, sodass Alina erschrocken etwas zum Festhalten suchte, so schwankte es.
Dann ließ Nik den Motor aufsummen und steuerte das Boot in langsamer Fahrt geschickt zwischen den leicht tanzenden Schiffsleibern hindurch, der Hafenausfahrt zu.
Alina betrachtete den jungen Mann wohlgefällig, er war groß und breitschultrig, mindestens fünf Jahre jünger als sie, und das machten nicht nur das jungenhafte Gesicht, die zerzausten dunklen Haare und das offenbar stets fröhliche Gemüt. Obwohl Alina inständig auf einen Erfolg ihres Ausflugs hoffte, sie dem Wiedersehn mit Milan gleichsam entgegenfieberte, dachte sie einen Augenblick, dass sich die drei Tage, sollte es dazu kommen, mit diesem Nik in Losinj wohl aushalten ließen.
Nachdem sie die Südspitze Istriens umfahren hatten, trafen sie auf sehr raue See, die der Reise viel vom Angenehmen nahm. Das Boot sprang gleichsam von Welle zu Welle, hatte Schlaggeräusche und Wasserspritzer belästigten. Obwohl der Elektromotor trotz Volllast sehr leise lief, schloss sich eine Unterhaltung aus.
Nach einer Stunde etwa riss die Wolkendecke auf, sodass wenigstens eine angenehme Wärme die Fahrt erträglicher machte.
Sie passierten eine Jacht des Naturcorps, auf deren Rumpf in riesigen Lettern „Kampf dem HAARP-Projekt!“ stand. „Schließt euch uns an!“ dröhnte eine Lautsprecherstimme.
Wenig später drosselte Nik die Maschine. „Da vorn“, rief er und streckte den Arm weit aus. „Es geht los!“
Zunächst wusste Alina nicht, was ihn bewegte. Dann sah sie es: Ein Streifen Land nahm einen Teil des Horizonts ein, aber das meinte Nik wohl nicht, sondern den Katamaran, der mit schäumenden Bugwellen auf sie zugerast kam.
Nik griff in die Steuerung und machte Anstalten, das Boot zu verlangsamen.
„Weiterfahren, Mann!“, rief Alina. „Wovor hast du Schiss!“
In etwa 100 Meter Entfernung sackte der Katamaran ein Stück tiefer, gleichzeitig erstarben die Bugwellen. Er hatte die Fahrt gestoppt.
Sekunden später eine mächtige Frauenstimme: „Ihr befindet euch in Privatgewässern. Das Befahren ist nicht gestattet. Bitte verlasst augenblicklich den Bereich!“
Nik sah auf Alina.
„Wir fahren weiter!“
„Es ist mein Boot!“
„Dem passiert schon nichts und – ich übernehme hier die Verantwortung, ich will dorthin!“
Nik zuckte mit den Schultern. Um seinen Mund hatte sich ein Zug gelegt, als finde er Spaß an der Sache. Mit unverminderter Geschwindigkeit fuhr das Boot weiter.
„Umkehren, verdammt!“, befahl die Stimme. „Umkehren, oder ich schieße!“
„Fahr zu, das können die nicht machen! Die bluffen“, feuerte Alina Nik an.
Aber Nik hatte ohnehin keine Anstalten gemacht, der fremden Stimme zu gehorchen.
Doch plötzlich blitzte es drüben am Katamaran auf, und es zischte eine Garbe Leuchtspurmunition hoch über das Boot hinweg. Dem folgte das Knattern der Abschüsse.
Da schaltete Nik den Motor ab. Langsam glitt das Boot weiter, das Schaukeln nahm zu.
Wenige Minuten später war der Katamaran heran. Es musste ein sehr geschickter Mensch steuern, denn das Fahrzeug kam längsseits mit kaum einem halben Meter Zwischenraum zum Stehen. Erst dann stieg eine vollschlanke Frau aus der Luke des Aufbaus, fasste mit einem Enterhaken Niks Boot und koppelte es geschickt und behänd an den Rumpf des Katamarans. Die Prallballen quietschten.
Das Manöver lief so schnell und routinehaft ab, dass weder Nik noch Alina die Gelegenheit zu irgendeiner Gegenaktion ergreifen konnten. Sie hatten zu tun, Halt zu finden.
„Hallo“, sagte die flinke Bootsvertäuerin. Sie befand sich nunmehr in etwas mehr als drei Meter Abstand etwas höher als des gefesselte Boot. Aus ihrem runden Gesicht blickten zwei große, weit stehende Augen, giftig-rotes Haar flatterte unter einer Kapuze hervor, die zu einer leichten Windbluse gehörte. In der Rechten hielt sie einen Handlaser. „War ich nicht deutlich genug?“, fragte sie ruhig. „Wer seid ihr und was wollt ihr? Ich mache euch darauf aufmerksam, dass ich berechtigt bin, von der Waffe Gebrauch zu machen. Also, Herrschaften, wer seid ihr?“
„Ich…“, begann Nik.
„Lass, Junge“, unterbrach Alina. „Ich bin Alina Merkers, komme vom Mars und möchte dringend den bei euch arbeitenden Milan Nowatschek sprechen. Deshalb bin ich hier. Eine andere Gelegenheit hatte ich nicht, Normale können mit euch ja nicht kommunizieren.“
„Soso“, spottete die andere. „Vom Mars kommst du just daher. Bist ja gar nicht grün, oder sind das bei euch nur die Männchen?“ Sie nahm die Identitätskarte, warf einen Blick darauf und steckte sie ein. „Und du bist wahrscheinlich vom Neptun!“, sie wandte sich an Nik. „Deine Karte!“
Nik reichte das Gewünschte hinüber.
„Nik hat mit der Sache nicht das Geringste zu tun“, rief Alina. „Ich habe ihn gebeten, mich nach Unije zu bringen.“
„So – er ist von hier und müsste wissen, dass Unije tabu ist, also!“
„Ich habe ihn überredet. Ich muss Milan dringend sprechen.“
„Weil du vom Mars bist“, sie lachte breit. Ernst, mit einem Fuchteln ihrer Waffe setzte sie hinzu: „Macht keinen Blödsinn!“, und verschwand in der Kajüte.
„Ich habe dich gewarnt“, sagte Nik, ohne dass ein Vorwurf aus seinen Worten herauszuhören gewesen wäre.
„Hoffentlich widerfährt dir nichts, es täte mir sehr Leid“, sagte Alina.
„Keine Sorge. Wenn sie es melden, gibt‘s eine Verwarnung, ist schon mehreren passiert. Wir können die nicht leiden, und da herrscht so was wie Solidarität unter den Einheimischen.“
„Wieso könnt ihr die nicht leiden?“
„Na, du siehst ja – sie blasen sich auf. Die paar Leute, die auf der Insel lebten, mussten von heute auf morgen weg…“
„Doch sicher mit einer Abfindung!“
„Na, wenn schon. Heimat ist Heimat. Was ist denn dein Milan für einer?“
„Milan… Das ist eine lange Geschichte. Dass er hier gelandet ist, habe ich erst aus der Zentralen Datenbank fischen müssen…“
„Und – du kommst tatsächlich vom Mars?“
„Tatsächlich.“
Der Tonfall der Frage zeigte, dass es Nik brennend interessierte hätte, mehr von ihrem Aufenthalt auf dem Nachbarplaneten zu erfahren. Doch er schwieg, als er nach einem Blick bemerkte, dass sie nicht bei der Sache war.
Alina lehnte an der Kajütenwand und sah gedankenverloren zur Insel hinüber, und sie sann ihren eigenen Worten nach: „… habe ich auch erst später erfahren.“ Und es griff Furcht nach ihr, jetzt, vielleicht unmittelbar vor dem Ziel. Und wieder bohrte die Frage: Was war geschehen, was hat den Mann, seine Pläne so verändert…?
Die Zeit verrann, drüben am Katamaran tat sich nichts.
Nik rumorte in der Kajüte, kam mit einer Büchse heraus, nahm die Angel aus der Halterung, bespickte den Haken und warf sie aus. „Zeit ist Geld“, sagte er. „Und wer weiß, ob wir uns nicht noch selber beköstigen müssen.“
Nach einer weiteren halben Stunde des Wartens, Nik hatte wieder einmal die leere Angel eingezogen, nahm ihm Alina diese aus der Hand und klopfte mit dem Griff kräftig gegen die Kajütenwand des Katamarans – mit Erfolg.
Die Frau steckte den Kopf aus der Tür und rief wütend: „Was ist? Ihr habt zu warten, bis ich Antwort habe, hättet ja umkehren können, als Zeit war.“ Etwas versöhnlicher fügte sie hinzu: „Es wird nicht mehr lange dauern.“
Es verging abermals eine halbe Stunde.
Dann ging alles sehr schnell: Die Schifferin erschien, entfernte, wiederum profihaft, den Enterhaken, zunächst ohne ein Wort zu sagen. Dann zeigte sie auf Nik und sagte grob: „Du verschwindest!“ Sie gab ihm die Karte zurück. Dann wies ihr Finger auf Alina: „Und du kommst mit mir, dalli!“ Sie hielt ihre Hand zur Hilfestellung Alina entgegen. Dieser blieb kaum Zeit, ihre Tasche zu greifen, die ihr Nik reichte.
„Mach‘s gut Nik – und danke!“, rief sie noch. „Ich finde dich – zum Bezahlen!“ Sie befreite sich von der Hand der Frau, die sie offensichtlich mit in die Kajüte ziehen wollte. „Ich bleibe draußen“, zischte sie eigenwillig.
„Ja – mach‘s gut“, antwortete Nik und startete den Motor. Auch der Katamaran ruckte an und nahm Fahrt auf.
Alina blickte Niks Boot hinterher, das sich in einem flachen Bogen südwärts entfernte. Sie balancierte zum Heck und winkte, als sie bemerkte, dass auch Nik zu ihr herübersah.
Zwischen Niks Boot und dem Katamaran hatte sich die Entfernung auf mehrere 100 Meter vergrößert. Noch immer sah er Alina am Heck des Fahrzeugs stehen. Ob sie ihm zuwinkte, konnte er nicht mehr erkennen, Gischt und Wasserstaub, aufgewirbelt in Höchstgeschwindigkeit, verhinderten dies.
Doch plötzlich zuckte dort, wo er den Katamaran wusste, ein Blitz auf, dem wenig später ein dumpfer Knall folgte.
Nik stoppte. Sein Boot tanzte, aber die Heckwelle verebbte schlagartig, die Sicht zurück auf das Geschehen war frei.
Ein Rumpf des Katamarans bäumte sich auf und versank mit den übrigen Schiffsteilen ungeheuer schnell im Meer. Es brodelte, dann sah Nik dort nichts als Wasser…
Nik warf die Maschine an, wendete, gab volle Kraft, doch da erblickte er sie: Zwei Schnellboote hatten sich aus der Silhouette des Uferstreifens gelöst und rasten auf die Stelle zu. Sie würden diese lange vor ihm erreichen.
Resigniert und ein wenig in Furcht drosselte der junge Mann den Motor und ließ das Boot einen Kreis vollenden, der es wieder auf den vordem eingeschlagenen Südkurs brachte.

11. Kapitel

Obgleich schon oft beobachtet, blieb es für Ahmed Hassim stets ein erhabenes Schauspiel, wenn die Riesenluftschiffe die Antennenmasten einflogen, so auch an diesem Tag.

Er hatte sich auf seinen Lieblingsplatz am Meer begeben, noch bevor der erste Transporter einschweben würde. Äußerst befriedigt hatte er zuvor das neue Antennenfeld inspiziert, auf dem in Reih und Glied die 48 riesigen Fundamentblöcke standen, noch eingeschalt die letzten, belagert von wartenden Männern und Maschinen die ersten. Aus dem Beton ragten streng ausgerichtet aufnahmebereit die dicken Schraubbolzen – das Nagelbrett eines überriesigen Fakirs, so der irre Vergleich Ahmeds.

Aus dem dunstigen Horizontstreifen tauchte ein weißer Punkt auf, der sich rasch vergrößerte und zum Lifter mauserte. Erst später hob sich das Gitterwerk des unter dem Schiff hängenden Mastes vom Blaugrau des Meeres ab.

Eine Sekunde lang entstand in Ahmed das Bild des abstürzenden Schiffes von damals. Glücklicherweise hatte sich ein derart feiger Akt nicht wiederholt. Geahndet aber konnte das Verbrechen nicht werden, da der Urheber unentdeckt blieb.

Dann hatte der Zeppelin den Uferstreifen erreicht, das Zischen der bereits gedrosselten Turbinen war deutlich zu hören, und Ahmed hielt Schritt mit dem Koloss, der langsam an Höhe verlor und, eingewiesen vom Bauleiter, die Last zum ersten Fundament bugsierte.

Auch Ahmed befand sich nun bei der Gruppe der Männer, die den herabsinkenden Mast packen und ihn die letzten Dezimeter von Hand auf die Bolzen fädeln würden.
Dann klirrte Stahl auf Stahl.
„Halt!“, schrie der Bauleiter.
Die Männer hatten losgelassen, mit einer metergroßen

Amplitude pendelte der Mast, berührte bei jedem Durchgang einen der aufragenden Bolzen mit einen hässlichen Geräusch. „Nochmal!“, ordnete der Bauleiter an.
Ahmed trat näher, beobachtete gespannt.
Die Männer fassten in die Maststreben und dirigierten die unteren Traversen des Basisvierecks mit den Aufnahmelöchern über die Bolzen – oder zumindest versuchten sie es. Nach mehreren Ansätzen gaben sie auf.
„Das kann nicht sein“, der Bauleiter stöhnte. Er hatte den Helm abgenommen und kraulte sich am Kopf.
Die Abstände der Bolzen stimmten mit denen der Löcher nicht überein. Der Mast passte nicht auf das Fundament.
Es herrschte Ratlosigkeit, der Bauleiter sah betreten auf Ahmed, noch immer war ihm die Ungläubigkeit ins Gesicht geschrieben.
Abermals pendelte der Mast, und abermals stieß er klackend an einen der Bolzen. Es war das einzige, nervende Geräusch im monotonen leisen Rauschen der Schiffstriebwerke, die den Riesen auf Höhe hielten.
Die Männer standen bewegungslos, schweigsam und blickten auf Ahmed.
Aus dem Sprechgerät quäkte die Stimme eines Luftschiffers: „Was ist? Seid ihr eingeschlafen da unten?“
Ahmed nahm dem Bauleiter das Gerät aus der Hand, zögerte. „Wir haben ein Problem.“ Er sprach langsam, als fielen ihm die Worte nur nach und nach ein. „Setz den Mast neben dem Fundament ab, und kipp ihn in Längsrichtung – so!“ Er ging einige Schritte und deutete mit ausholenden Armbewegungen das Vorhaben an.
Einige Augenblicke geschah nichts. Dann sagte der andere „Okay“. Das Motorengeräusch verstärkte sich, der Mast schwebte in die angegebene Richtung, senkte und neigte sich.
Noch immer schweigend koppelten die Männer die Trossen ab.
„Bis auf weiteres muss ich die Transporte stoppen“, ordnete Ahmed an.
„Das zweite Schiff ist bereits unterwegs“, antwortete der Gesprächspartner. „Beeilt euch!“, rief er den Leuten zu, die mit den Schläuchen hantierten, um das Ballastwasser in das Schiff zu pumpen.
Ahmed überlegte einen Augenblick. „Er soll seinen Mast auch so abladen. Danach machen wir erst einmal Schluss!“
„Du bist dir im Klaren, was das bedeutet?“, rief der Luftschiffer.
„Bin ich, verdammt nochmal!“
„Na dann, macht ‘s gut. Denk nicht, dass wir nur auf euch warten.“ Nach dem Abkuppeln der Schläuche gewann der Zeppelin schnell an Höhe, wendete behäbig und nahm Kurs aufs Meer.
„Genau zehn Zentimeter“, murmelte der Bauleiter, noch immer nach Fassung ringend. Er hatte mit einem Taschenmessband die Abstände der Schraubbolzen im Fundament und der Löcher im unteren Rahmen des Mastes verglichen.
„Wo?“, fragte Ahmed.
„Am Mast – zu viel!“
„Zu viel.“ Ahmed überlegte. „Da können wir auch nicht provisorisch…“
„Vielleicht ist es nur der eine.“ Der Mann zuckte hilflos mit den Schultern.
„Das werden wir gleich wissen.“ Ahmed wies auf das nächste Luftschiff, das in diesem Augenblick über dem Waldstreifen auftauchte.
„Meinetwegen versucht es“, sagte Ahmed matt und schüttelte dabei den Kopf.
Die Männer griffen wieder in die Gitter, der Vorarbeiter legte das Bandmaß an.
„Das Gleiche“, rief er.
Ahmed hob abermals die Schultern. „Legt ihn dazu“, ordnete er an.
Der Schiffstreiber lehnte aus der Kabine. „Mist gebaut, was?“, rief er herab.
Ahmed antwortete nicht, er warf nur einen wütenden Blick nach oben.
„Hau bloß ab!“, schrie einer der Arbeiter.
Der Mann lachte, grüßte übertrieben und gab den Turbinen Schub.
Ahmed Hassim lehnte am Betonklotz, er hielt den Kopf gesenkt. Langsam entnahm er das Sprechgerät der Halterung und wählte die Direktion.
„Er ist in einer Beratung.“ Die Chefsekretärin meldete sich machtbewusst.
„Sofort, hörst du, sofort muss ich Erikson sprechen, verdammt!“
„Er hat…“
„Wir haben eine Katastrophe. Wenn du nicht augenblicklich…“
„Auf deine Verantwortung!“
Erikson hörte sich den knappen Bericht an, ohne Ahmed zu unterbrechen. Dann sagte er verhältnismäßig ruhig: „Was schlägst du vor?“
Ein wenig überrascht ob dieser Reaktion, fand Ahmed nicht sogleich den richtigen Ansatz. „Ich, ich – Vorbereitungen für den Abriss treffen, den Neuguss, aber gleichzeitig drüben, drüben in Pula die dort lagernden Masten überprüfen. Wenn die alle sofort mit neuen Fundamenten beginnen.“
„Mach das! Morgen acht Uhr Sonderberatung bei mir. Da berichtest du mir, wie es zu dieser Sauerei kommen konnte. Ende.“

Noch am selben Tag wurde die Ursache dieses gravierenden Fehlers ermittelt: Der Automat, der die Rahmen mit den aufgeschweißten Bolzen herzustellen hatte, tat dieses nach einem falschen Maß. Der Abstand der Bolzen voneinander war um zehn Zentimeter zu klein. Ein Fehler im Programm? Der zuständige Wart schwor Stein und Bein, den Plan richtig digitalisiert zu haben. Ausschließen konnte man nicht, dass irgendwer sabotiert hatte, denn die Maschine arbeitete lediglich in drei Schichten, in der übrigen Zeit konnte jedermann ohne aufzufallen an sie gelangen. Blieb nur der Verdacht, dass sich jemand von der Konkurrenz oder anderen Übelwollenden auf der Insel befand und sich an dem Automaten zu schaffen machte.

Erikson leitete eine umfangreiche Suchaktion ein, ließ die Insel durchkämmen, die Leute verhören – ohne Erfolg. Es blieb nur, höchste Wachsamkeit anzuordnen und auf einen möglichen nächsten Schlag des Gegners zu warten, wobei er sich vielleicht eine Blöße geben würde.

Die Direktion war geneigt, den Abschuss des Lifters seinerzeit mit den neuerlichen Sabotageakt in einem Zusammenhang zu sehen. Auf vier Wochen Zeitverzug belief sich der Schaden, von den Kosten ganz zu schweigen. Die Lagergebühren stiegen, der Transport musste neu vertraglich geregelt werden. Es wurden Sanktionen verhängt und, und…

Ahmed Hassim bekam den Auftrag, rund um die Uhr die neuen Fundamente zu errichten, nachdem feststand, dass die bereits in Pula lagernden 46 Masten nach demselben, und zwar ursprünglich vorgesehenen, Maß gefertigt waren.

Milan Nowatschek drückte die Empfangstaste am Sprechapparat auf seinem Kommunater. „Bitte“, meldete er sich unwirsch. Vor ihm lag das unfertige Harmonogramm für den Neubau der Mastfundamente, das er – mit der besten Absicht zu verzögern – noch bis Schichtende fertig zu stellen hatte.

„Mareis“, meldete sich grantig der Oberste Sicherheitsbeauftragte der Company. „Kennst du eine Alina Merkers?“

Milan durchflutete eine heiße Welle. Eine Alina Merkers kannte er nicht, dessen war er sich sicher. Aber sollte er sie kennen? Eine Identitätslücke? Fieberhaft überdachte er die oftmals, aber stellenweise nur flüchtig – weil für unwichtig erachtet – gelesenen Eintragungen seiner neuen Personalakte. Nein, eine solche… Oder halt! Eine verflossene Partnerschaft!

Milan Nowatschek – ich – soll mit einer Alina eine Zeit zusammengelebt haben. Danach sei sie ihm – mir – aus den Augen gekommen. Milan holte tief Luft. „Ja“, sagte er wie beiläufig. „Was ist mit ihr? Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.“

„Sie will dich unbedingt treffen.“

 

„Hm, ich wüsste nicht…“ Ein gelinder Schreck durchfuhr

Milan.
„Na, was ist, willst du oder nicht? Du weißt, dass im Grunde
Besuche hier nicht gestattet sind.“
„Wieso hier?“
„Du hast sie also nicht eingeladen?“
„Wie würde ich? Hast doch gerade festgestellt, dass solches
nicht gestattet ist. Ich bin ein disziplinierter Mitarbeiter.“
Milan bemühte sich um einen scherzhaften Ton.
„Also, was ist? Sie steht gleichsam auf der Schwelle.“ „Das heißt?“
„Eines unserer Wachboote hat sie aufgegriffen. Es liegt vor
der Einfahrt, und man wartet dort auf eine Entscheidung.
Abschieben oder ausnahmsweise reinlassen.“
Wieder überlegte Milan fieberhaft. „Hartnäckig, sagst du, ist
sie?“
„So wurde es mir gemeldet. Sie will sich nicht abweisen
lassen.“
„Kann ich mit ihr erst mal – fernmündlich…?“
„Wenn du meinst, dass es etwas bringt. Ich kann dir eine
Verbindung herstellen lassen.“
Abermals kreisten Milans Gedanken. „Nein – was ist, wenn
sie das Falsifikat sofort erkennt und es ruchbar macht… Wenn
sie mich unter vier Augen entdeckt, lässt sich vielleicht,
sicher!, etwas…“, dachte er. „Nein, lass sie kommen!“,
antwortete er.
„Gut – erwarte sie in einer halben Stunde am Hafen. Du
haftest mir für ihre Integrität. Melde sie bei der Direktion an.
Und ich wünsche einen Bericht über den Ablauf des Besuchs.
Du weißt, wir haben allen Grund, wachsam zu sein!“ „Okay.“ Milan lächelte belustigt. „Wir haben allen Grund“,
dachte er.
Der Sachverhalt beunruhigte Milan erheblich. Erneut
durchforstete er gedanklich seine hiesige Identität. Sie war also
für den Einsatz nicht erfunden worden! Es gab – oder gibt –
einen Milan Nowatschek, einen, der mit diese Alina lebte, die
Vergangenheit hatte, die jetzt die seine sein sollte. Und die
Frage, die ihn bislang nicht gestört hatte, füllte auf einmal
wuchtig sein Denken: „Ist dieser andere Milan Nowatschek irgendein Mann, egal ob konkret oder virtuell, oder – mein
Bruder, mein Zwillingsbruder? Sehe ich ihm ähnlich?“ Als er beim letzten Treff mit Cathleen Creff in harmonischer
Zweisamkeit noch einmal anklopfte, war sie bei ihrer
Behauptung, sie wisse es nicht und es spiele doch keine Rolle,
geblieben. Mit einem Kuss hatte sie weiteres Fragen erstickt… Mit dem Vorsatz, es auf die Begegnung ankommen zu lassen
und seine Reaktionen von den ihrigen abhängig zu machen,
begab er sich auf den Weg zum Hafen. Schließlich könnte das
Treffen auf ein Missverständnis, eine fehlerhafte
Datenrecherche zurückgeführt werden. „Nowatschek ist kein
seltener Name. Wenn sie mich nicht als ihren Milan erkennt,
ist der Fall ein für alle Mal abgeschlossen.“
Mit wiedergewonnener Zuversicht schritt Milan dem Ereignis
entgegen, einigermaßen sicher, dass das Treffen mit der
unbekannten Alina seinen Job wohl kaum beeinträchtigen
würde. Allerdings, so hoffte er, sollte beim ersten Kontakt mit
dieser Frau keiner von den Hiesigen dabei sein.

Als Milan das Hafengelände erreichte, erblickte er sogleich etwa einen Kilometer entfernt draußen einen zur Wachflotte gehörenden Katamaran, an dem längsseits ein Motorboot anlag.

Er hatte das Ende der Mole noch nicht erreicht, als das Schiff Fahrt in Richtung Hafen aufmachte, das andere Boot einen Bogen beschrieb und sich anscheinend von der Insel entfernte.

Der Katamaran hielt flott auf das Ufer zu, wich elegant einigen aus dem Wasser ragenden Felsen aus, und in wenigen Minuten würde er die Hafeneinfahrt erreicht haben. Am Heck des linken Bootskörpers stand ein Mensch.

Milan sah dem Kommenden erwartungsvoll entgegen. Verhehlen konnte er nicht, dass sich seiner eine gewisse Erregung bemächtigt hatte.

Er wich einer Pfütze aus.
Als Milan einen Augenblick später wieder aufsah, hatte sich das Bild draußen total und erschreckend verändert: Der Katamaran flog gleichsam auseinander. Elektrische Entladungen blitzten. Der linke Rumpf zersplitterte, als sei er mit voller Wucht auf ein Hindernis aufgekracht, der rechte bäumte sich in die Luft und versank mitsamt der Kajüte in wenigen Sekunden. Das Wasser ringsum schäumte, Trümmer tanzten umher.
Wenig später war ein dumpfer Knall zu vernehmen.
Milan stand wie erstarrt. Dann wendete er sich um, in der Absicht, die Mole zurückzurennen, Hilfe zu holen. Aber da löste sich bereits ein Schnellboot der Hafenwacht, das Kurs auf die Unglücksstelle nahm; ein zweites folgte.
Milan stand am äußersten Ende der Mole und beobachtete voller Unruhe das Suchmanöver. Freilich, diese Alina kannte er nicht, sie bedeutete ihm nichts, brachte womöglich Gefahr. Aber etwas neugierig auf sie war er geworden, und ein solches Ende musste es wohl nicht sein.
Andere Zuschauer hatten sich eingefunden. Dann sah man, wie ein Körper in eines der Boote gehievt und die Suche offenbar erfolgreich beendet wurde. Beide Fahrzeuge strebten ohne Eile der Hafeneinfahrt zu.
Milan formte die Hände zum Trichter und rief: „Habt ihr die Frau, lebt sie?“
„Wir haben sie“, rief einer der Sanitäter zurück.
„Ja!“
Milan atmete auf. Erleichtert ging er zurück. Als er sein Harmonogramm abgeliefert hatte, rief er die Krankenstation. Er erfuhr, dass die Verunglückte zwar verletzt und noch nicht ansprechbar sei, sich aber außer Lebensgefahr befinde. Sicher könne man sie bald besuchen.
Irgendwie konnte sich Milan des Eindrucks nicht erwehren, seine Nachfrage sei durch die Diensthabende Krankenschwester mit einiger Verwunderung aufgenommen worden.
Gegen Abend, gleich nach der Inspektion der Baustelle, begab Milan sich in die Krankenstation. Als er das Gebäude betreten wollte, kamen ihm zwei Angehörige des Wachdienstes entgegen, die im Laufschritt zum Hafen eilten. Er hörte noch, wie der eine rief: „Wer kann denn so was ahnen.“
Und wieder hatte Milan das Gefühl, als ob sein Wunsch, die verunglückte Frau aufzusuchen, bei der Dame an der Rezeption ein Erstaunen auslöste. „Zimmer sechsundzwanzig“, sagte sie. „Aber nur kurz, sie ist ruhebedürftig. Die zwei von der Wache haben sie eh schon aufgeregt.“
Milans Herz klopfte ein wenig schneller, als er kurz klopfte und eintrat.
Ein rundes Gesicht mit einem leichten Kopfverband darüber drehte sich ihm zu. „Hallo“, sagte sie. „Was willst du wissen – aber du bist ja gar nicht von der Sicherheit.“
Milan blickte irritiert, und ihm war im ersten Augenblick, als kenne er die Frau. „Hallo“, brachte er hervor. „Wie geht es?“
„Ich weiß nicht, wie es passiert ist, verdammt nochmal! Das hab ich aber den anderen schon gesagt.
Ich weiß ganz genau, dass ich Riff Nord ausgewichen bin. Und jetzt lasst mich in Ruhe!“ Sie war den Tränen nah.
„Du, du bist nicht A-Alina?“, fragte er mit unsicherer Stimme.
Sie blickte ihn erstaunt an. „Nein, ich bin Pamela Hopkins. Alina, dieses arme Schwein, ist hin, weil die gar nicht nach ihr gesucht haben. Hätte ich sie nur gleich davongejagt!“
Plötzlich begriff Milan. Erregt trat er an das Bett heran. „Du bist die Bootsführerin?“, fragte er zwingend. „Und warum wurde nach der anderen nicht gesucht?“
„Weil man denen nicht gesagt hat, dass ich jemanden an Bord hatte, und ich – ffft“, sie fuhr sich mit der flachen Hand übers Gesicht, „weggetreten bin. Als mich die vom Rettungsdienst rausholten, war für sie die Sache erledigt. Das Boot ist sowieso völlig hin. Aber an den Fels bin ich nicht gerammelt, es muss etwas gewesen sein, was vorher nicht dort war. Das müsst ihr mir glauben!“
„Ja, ja“, sagte Milan geistesabwesend.
„Wer bist du überhaupt? Einer vom Bau? Was interessiert dich das überhaupt?“
„Ist schon gut. Ich wünsche dir gute Besserung!“ Milan wandte sich zum Gehen.
„Ich werde mehr als genug von meinen lieben Kollegen und erst recht von den Sicherheitsleuten auszustehen haben, da brauche ich nicht auch noch welche von euch!“, brummelte Pamela und drehte den Kopf zum Fenster.
Wenig später rief Mareis mit gedämpfter Stimme an: „Wir müssen leider davon ausgehen, dass deine Besucherin, diese Alina Merkers, tödlich verunglückt ist. Mein Beileid.“
„Weil keiner nach ihr gesucht hat“, antwortete Milan heftig.
„Ein Missverständnis. Die Hafenwache hat von ihrer Anwesenheit an Bord nichts gewusst. Mir wurde nur die Havarie eines Bootes und die Rettung des Skippers gemeldet. Das Letztere war für mich ausschlaggebend. Leider kommen – dir als Neuling wohl nicht so geläufig – in dieser Gegend öfter solche Zwischenfälle vor, insbesondere wenn Zugereiste Boote führen. Die Küste ist stark zerklüftet, Untiefen, Felsen, Wracks… Also, Kopf hoch!“

12. Kapitel

„Das kommt davon, wenn man an der unrichtigen Stelle spart“, sagte Mannas nicht ohne Häme und strich wohlgefällig über seine Krawatte. „Hätte er sich eine schlagkräftige Wache zugelegt, wären die Randalierer nicht bei ihm eingedrungen und die Gebäude nicht abgebrannt, und hätte er sie ordentlich versichert – naja… Also – wir schlagen zu, bis zu etwa zwölf Millionen gehen wir mit, es wäre…“

Der Signalgeber meldete sich, gleichzeitig leuchtete die rote Kontrolllampe auf.
„Augenblick!“ Mannas wandte sich an seine drei Abteilungsleiter, die er zur Lagebesprechung geladen hatte. Er stand auf, trat hinter den Kommunater und nahm das Gerät auf.
Er hörte aufmerksam zu, ohne den Partner am anderen Ende der Leitung zu unterbrechen, und sagte dann nur die wenigen Worte: „So Leid es mir tut: Annullieren! Order folgt.“ Danach betätigte er eine Taste. „Die Originalnachricht auch für die Creff, sofort!“ Danach wandte er sich wieder seinen Leuten zu: „Das Wichtigste ist gesagt. Wir kaufen. Tom hat Verhandlungsvollmacht. Ich muss die Sitzung beenden, danke. Creff zu mir!“
Die Tür hatte sich kaum hinter den dreien geschlossen, als Cathleen Creff eintrat.
„Setz dich, wir haben ein Problem. Du hast Emzwei nicht ordentlich gecheckt. Jemand sucht nach ihm, ist schon bei Unije.“
Cathleen schwieg. Ihrem Gesicht merkte man nicht an, ob diese Nachricht und Kritik eine Wirkung in ihr ausgelöst hatten. „Wie lange weißt du es schon?“, fragte sie.
„Drei Minuten.“ Mannas schenkte sich einen Weinbrand ein und stürzte ihn hinunter. Dann erst wandte er sich seiner Besucherin zu. „Ich habe Annullieren angeordnet und Zweihundertvier eine Anweisung zugesichert. Du weißt, was du zu tun hast, wirst dich beeilen müssen – und, es sollte tunlichst wie ein Unfall aussehen. Die Problemperson liegt gleichsam auf Reede vor Unije. Sie sollte die Insel nicht betreten. Siehst du eine Chance?“
Cathleen Creff starrte in das Wasserspiel. Dann nickte sie. „Ich glaube schon!“
„Hör dir die Nachricht an und handle! Aber keine Panne, kapiert!?“
Die Frau stand auf und schritt zur Tür. „Verstehe“, sagte sie mit einem sarkastischen Lächeln.

Die Nachricht von Zweihundertvier, dem Langzeit-Agenten auf Unije, war denkbar knapp. Da er sie jedoch außerhalb der vereinbarten Zeiten übermittelt hatte, musste der Tatbestand ihm wichtig erscheinen. Und das war es wohl dann auch, wenn möglicherweise eine Enttarnung von Emzwei damit im Zusammenhang stünde.

„Emzwei, Milan…“ Einige Sekunden gab sich Cathleen Creff der Erinnerung hin. „Ihm wird schon nichts passieren“, dachte sie, als sie die Wiedergabetaste drückte.

„Ein Wachboot hat um elfuhrsiebenundsiebzg eine etwa dreißigjährige Frau namens Alina Merkers gestellt, die behauptet, vom Mars zu kommen und unbedingt Milan Nowatschek sprechen zu müssen. Ein Pulaer Einwohner hat sie geschippert; er hat mit der Sache nichts zu tun. Bis zu einer Entscheidung wird die Frau auf See durch unser Wachboot festgehalten. Ich bleibe auf Frequenz, versuche Zeit zu gewinnen. Ende.“

Cathleen Creff stoppte das Gerät, sah zur Uhr. „Elfuhrachtundachtzig, flotter Bursche“, murmelte sie anerkennend. Und dann begann sie eilig, aber ohne Hast am Sender Frequenzen zu verändern. Dann ein Piepton, die Gegenstation signalisierte: empfangsbereit.

„Achtung!“ Cathleen Creff sprach leise, als müsse sie sich – ungeachtet der technischen Raffinesse des digitalen konspirativen Kommunikationssystems – gegen einen Lauscher schützen. „Vor der Hafeneinfahrt liegt seit elfuhrsiebenundsiebzig ein Wachboot der Company, auf dem sich eine Besucherin befindet, die die Insel nicht erreichen darf. Ein Unfall wird unbedingt bevorzugt. Handeln sofort notwendig da jeden Augenblick eine Landegenehmigung erteilt werden kann. Ende.“

Nach wenigen Augenblicken kam das Signal, dass die Order auf dem U-Boot störungsfrei empfangen worden war.
Eine zweite kurze Nachricht ging zu Zweihundertvier nach Unije: „Danke, Reaktion eingeleitet. Ruhe für dich, Ende.“
Eine Sekunde überlegte Cathleen, ob eine dritte Nachricht an Emzwei abzusetzen notwendig wäre. Sie entschied sich für nein. „Hatte Milan gelogen, als er jede engere Beziehung bestritt? Wer ist dann diese Alina? Es rächt sich“, dachte sie, „dass ich die Unterlagen nicht gründlich gelesen habe.“ Sie blickte zur Uhr. Das Versäumnis jetzt nachzuholen, blieb keine Zeit. „Oder ist es eine einseitige, ausschließlich ihre Sicht? Wenn diese Alina tatsächlich von einer Marsstation kommt, könnte es sein, dass sie vor lauter Einsamkeit und Erdweh in eine harmlose Bekanntschaft eine innige Beziehung hineingesehnt hat, vielleicht gar an eine solche glaubt. So etwas soll es geben. Und wenn doch wirklich…?“
Cathleen hob in einer fatalistischen Pose die Schultern. „Er wird von der Company-Leitung über die Besuchsabsicht dieser Alina informiert worden sein, wird sich bekennen müssen, ob er sie empfangen will oder nicht, wenn ja, wird er eine Sicherheitsbürgschaft abzugeben haben.“ Cathleen Creff blickte erneut zur Uhr. „Das ist jetzt alles im Gange…
Und wenn Milan sie empfangen will, darf, oder gar die Genehmigung für ein Treffen auf dem Festland erhält – nun, ein Unfall… Das ist höhere Gewalt, da kann man nichts machen. Sie ist so oder so ein Sicherheitsrisiko!“
Nur einen winzigen Augenblick dachte Cathleen daran, dass das alles den Milan Nowatschek betrifft, mit dem sie einige schöne Stunden… der ihr womöglich vertraute.
Fast hätte sie bei dem Gedanken aufgelacht. „Vertrauen in dieser Zeit, eine Nostalgieduselei, ein Hemmschuh für Tüchtige!“
Plötzlich riss eine Erkenntnis Cathleen aus ihrem fruchtlosen Denken: „Sie meint Emeins! Diese Alina meint Emeins!“ Sie atmete tief durch und ließ diese Einsicht eine kleine Weile auf sich wirken. Dann sagte sie befriedigt und inbrünstig laut vor sich hin: „Umso weiser Mannas’ Entscheidung…“

13. Kapitel

Alina kam langsam zu sich. Zuerst spürte sie das rhythmische Auf und Ab der Nässe und des Drucks auf ihren Unterkörper und die rechte Hand. Jedes Mal, wenn diese Berührung wiederkam, entstand am Arm ein Brennen. Dann fühlte sie eine schmerzhafte, unerträgliche Pressung in den Rippen, als wolle sie jemand mit einem sehr stumpfen Gegenstand durchbohren. Die linke Gesichtshälfte schien auf ein Reibeisen geraten zu sein.

In der Absicht, den Schmerz zu lindern, versuchte sie den Oberkörper zu drehen.
Plötzlich fiel die Ohnmacht gänzlich von der Frau, und das ganze Geschehen stand überdeutlich vor ihr: Sie sah sich am Heck des Katamarans, aufrecht, dem Land erwartungsvoll entgegensehend. Da ragte plötzlich vor dem linken Rumpf etwas ein Weniges über die Wasseroberfläche. Sie dachte noch: „Ein Wal“, sagte sich: „Quatsch, nicht im Mittelmeer.“ Aber da kam der ungeheure Schlag, der sie emporwirbelte, im hohen Bogen in die Luft schleuderte. Sie spürte das Aufklatschen auf dem Wasser und etwas unerträglich Hartem. Und danach war nichts mehr…
Alina hob den schmerzenden Kopf, öffnete die Augen. Nacht. Aber direkt vor ihr in einiger Entfernung eine Reihe von Lichtern, die sich in den wasserübersprühten Augen strahlig wie Weihnachtssterne formten.
Sie befand sich auf einem aus der See ragenden Felsen, die Beine und der untere Körperteil im Wasser. Kopf, Brust und rechter Arm lagen auf Gestein in einem breiten Spalt, sodass ein Herabgleiten verhindert wurde.
Das salzige Wasser machte zahlreiche Hautabschürfungen, besonders eine an der Schläfe, schmerzlich spürbar. Andere Verletzungen aber konnte Alina nicht feststellen. Vorsichtig bewegte sie die einzelnen Gliedmaßen. Dann kroch sie gänzlich aus dem Wasser, fand eine einigermaßen bequeme Sitzhaltung; sie schlang die Arme um die Knie, blickte zum Ufer und begann ihre Lage zu überdenken.
„Sie werden gesucht haben, schließlich ging es um ihre Mitarbeiterin, ihr Boot. Mich haben sie auf dem Felsen nicht gesehen – verschollen, ertrunken… Auch Milan, auch Milan muss das annehmen, denn bestimmt hat man ihn von meinem Kommen informiert, bei dem Sicherheitsfimmel, den die haben.“ Alina richtete den Oberkörper auf. Einen Augenblick überkroch sie Furcht und so etwas wie Verzweiflung. Doch sie fasste sich schnell, lächelte. Deutlich war drüben die Silhouette der Uferlinie auszumachen, einige Baumkronen gegen den dunklen Himmel, und die Lampen strahlten jetzt hell und ohne Korona. Alina wusste, dass sie spielend das Land schwimmend erreichen würde, und noch empfand sie die Luft nicht zu kühl, trotz der nassen Kleider. Aber der Gedanke regte sie an. Sie zog sich bis auf die Unterwäsche aus, bündelte die Oberbekleidung: Hose, Pullover und Schuhe.
Sie stellte mit Genugtuung fest, dass ihre Handtasche noch an ihr hing und band mit deren Riemen die Kleidungsstücke zusammen. Während dieser Tätigkeiten fasste sie den Entschluss: Zuerst ans Land, dann weitersehen. Es kamen zunächst nur diese Alternativentscheidungen in Frage: abwarten, vielleicht Milan aufsuchen, mit ihm erst sprechen – oder sofort anderwärts Hilfe in Anspruch nehmen. „Wohin das Pendel ausschlägt, wird sich zeigen, wenn ich drüben bin und in welcher Verfassung und – was ich so vorfinde. Herzlich willkommen scheint man bei denen nicht zu sein.“
Alina schob sich ihr Bündel über den rechten Oberarm und ließ sich ins angenehm temperierte Wasser gleiten. Sie nahm sich einen Lichtpunkt zum Ziel, der links – wenn sie sich nicht täuschte – neben der Mole leuchten mochte, und begann ruhig und ausgeglichen darauf zu zu schwimmen. Streckenweise ließ sie sich lediglich treiben oder wechselte in die Rückenlage, aber zu keinem Zeitpunkt spürte sie Müdigkeit oder Schwäche.
Sie wunderte sich, als sie auf Grund stieß und so das Ende der unfreiwilligen Schwimmpartie erreicht sein sollte. Sie hatte sich die Entfernung größer vorgestellt.
Alina watete ans Ufer, was sich der Steine wegen als äußerst beschwerlich erwies. Der leichte Wind kühlte sie unangenehm ab. Sie machte sich auf den Weg zu einem etwas heller beleuchteten Gebäudekomplex rechter Hand, zunächst entschlossen, sofort irgendwo Einlass zu erbitten. Anderes erschien ihr zu unsicher.
Sie spürte einen befestigten Weg unter den Füßen und begann munter auszuschreiten.
Nach wenigen Metern fuhr sie zu Tode erschrocken zusammen: Gleichzeitig mit einem sehr lauten „Halt!“ wurden zwei kräftige, blendende Scheinwerfer auf sie gerichtet, von deren Trägern sie außer ein paar Fingern nichts sah.
Dann sagte eine Männerstimme: „Leuchte!“
Was beleuchtet werden sollte, wurde sogleich klar, als Alinas Arme ziemlich brutal nach hinten gebogen und die Hände mit einem Stoppband zusammengeschnürt wurden.
Alina hatte sich so weit gefangen, dass sie begriff, was mit ihr geschah. „Mensch, das tut doch weh!“, rief sie.
Ein kurzes weibliches Lachen flog auf, gefolgt dann von der ziemlich barschen Stimme: „Vorwärts, Täubchen!“
In einigen Metern Entfernung sprach der Mann offenbar in ein Handgerät, meldete wahrscheinlich den Fang.
„Lass los, ich geh allein!“, rief Alina. „Ich möchte sofort Milan Nowatschek sprechen!“
„Wen du sprechen willst und wer mit dir sprechen wird, das bestimmst du nicht.“ Aber die Frau lockerte den Griff, ohne jedoch die Gefangene gänzlich loszulassen.
„Wo bringt ihr mich hin?“ Alina versuchte es auf eine versöhnlichere Tour. „Ich bin die, die heute auf einem eurer Boote… auf dem Boot war, das aufgelaufen und wahrscheinlich gesunken ist.“
„Und warst bis jetzt bei Neptun zum Abendessen“, spottete die Unsichtbare.
„Nein, eher bei Morpheus, ich war stundenlang ohnmächtig!“
„Ohnmächtig ist gut; fabelhaft gegens Erinnern oder wenn man ‘s Befragen satt hat. Aber bei Mareis, Täubchen, empfehle ich es dir nicht. Der nähme auch glühende Zangen, wenn sie nicht aus der Mode gekommen wären.“
„Halt deine Klappe“, sagte der Mann.
Sie näherten sich den Hafenbauten, die Lampen standen dichter, Alina konnte jetzt die zwei Gestalten, die sie eskortierten, sehen. Sie staken in Tarnanzügen und trugen Laserwaffen. Der Kopf des dunkelhäutigen Mannes wurde von der Nacht gleichsam geschluckt. Das Weiß seiner Augen schwebte gespenstisch über dem Uniformkragen; es sah aus, als beobachteten sie völlig selbstständig das Geschehen. Die Frau mochte 40 Jahre alt sein; an ihr fielen eine spitze Nase und ein knochiges Gesicht auf.
Sie erreichten das erleuchtete Gebäude und parterre eine Art Wachrevier, wo sie von einem ebenfalls schwer bewaffneten Mann empfangen wurden. Dieser pfiff durch die Zähne, als er die drei viertel nackte Alina erblickte, fasste sich jedoch schnell, öffnete einen Spind, entnahm dem eine Decke und hängte diese über die mittlerweile gänsehäutige Frau. Dann geleitete er sie in einen Nebenraum, der von einem großen Schreibtisch, drei Stühlen und mehreren Schränken, insbesondere aber von einem außerordentlich dicken Menschen beherrscht wurde, der ihnen einige Schritte entgegenkam und Alina übertrieben höflich auf einen Stuhl komplimentierte. Ein Wink von ihm genügte, und der andere Mann im Raum zerschnitt Alina die Handfessel.
Dann entknotete dieser Alinas Bündel und breitete die Sachen auf dem mit Ausnahme des Sprechgeräts leeren Schreibtisch aus.
Alinas beide Begleiter hatten offenbar ihren Streifengang wieder aufgenommen; denn sie blieben der Szene fern.
„Hast dich gewundert, so schnell die Bekanntschaft von uns Inselbewohnern zu machen? Naivlinge, deine Auftraggeber. Sag ihnen – falls du nochmal Gelegenheit dazu bekommen solltest –, selbst wenn sie dressierte Mäuse schicken… Und unterrichte sie auch, dass man recht gut auf einer Leiter aus dem Wasser steigen kann und nicht im Finstern über die Steine stolpern muss. Diese hässlichen Schürfen auf dem Pfirsichhäutchen… Aber lassen wir den Schmus.“ Er ging zurück zu seinem Schreibtisch. Bei jedem Schritt ächzte der Fußboden. „Also, da wollen wir mal. Mein Name ist Lavall, und ich möchte gerne wissen, wer du bist, woher du kommst, was du willst – na, du weißt schon.“ Der dicke Mann hatte hinter seinem Schreibtisch Platz genommen, hob wie uninteressiert Alinas noch tropfnasse Kleidungsstücke an, kippte dann aber ziemlich energisch den Inhalt ihrer Handtasche aus und betrachtete sorgfältig jeden Gegenstand. „Na, ich höre“, sagte er dann nötigend.
Alina betete ungehalten ihre Personalien herunter, sagte, woher sie kam, was ihr widerfuhr, und forderte danach: „Ich möchte nun endlich Milan Nowatschek sprechen, er kennt mich, wird das aufklären und euch ein paar Takte sagen.“
„Langsam, langsam. Erst wird dich unser Chef sprechen, und er wird entscheiden. Morgen. Du bekommst ein trockenes Plätzchen, wenn du willst, etwas zum Essen und Anzuziehen – und meinen guten Rat: Sag die Wahrheit, Mädchen, wenn er dich morgen fragt, was mit dir los ist. Ich möchte nur wissen, weshalb dieser Mensch, was unser Chef ist, so gar keinen Humor hat. Weißt du es, Lars?“
„Nein, ich weiß es nicht“, sagte der Angesprochene mit einem spöttischen Grinsen.
Der Dicke nickte diesem Lars zu und führte mit dem Kopf eine leichte Drehung aus.
„Komm“, forderte Lars, die stumme Aufforderung seines Vorgesetzten richtig interpretierend. „Dein Appartement.“
„Das werdet ihr bereuen“, knirschte Alina, wütend mehr ob ihrer Ohnmacht als über die Leute der Wache.
An der Tür drehte sie sich um und sagte kleinlaut: „Ich habe Hunger.“
Alina hatte im solide eingerichteten Verließ gut geschlafen. Gedanken machte sie sich nicht Es würde sich das Missverständnis alsbald aufklären. Sie verstand sogar, dass ein hohes Sicherheitsbedürfnis auf dieser Baustelle herrschte, und allmählich wurde sie sich des Glücksumstandes bewusst, mit der Zelle das bessere Los gezogen zu haben; sie konnte ebenso gut statt in dem brauchbaren Bett auf dem Grund der See liegen.
Eine freundliche junge Frau brachte zunächst einen Arbeitsanzug mit der Entschuldigung, dass sie in der Eile Besseres nicht aufgetrieben, aber Alinas Sachen gewaschen habe. Wenig später servierte sie ein kräftiges Frühstück, das Alina jedoch nicht zu Ende genießen konnte, weil nach einem kurzen Klopfen zwei Männer zu ihr in den Raum traten, vornweg ein großer weißhaariger, der zunächst den Blick auf den nachfolgenden verwehrte. Als er zur Seite trat, sprang Alina auf, dass der Stuhl kippte und der Kaffee überschwappte. Mit wenigen Schritten eilte sie auf den zweiten Mann zu und fiel ihm mit dem Ruf: „Milan – endlich!“, um den Hals.
„Na, da brauche ich ja nicht zu fragen“, sagte der Weißhaarige. „Sie ist es also!“
Milan Nowatschek löste sich behutsam von der Frau. „Alina“, sagte er zögerlich. „Ein Glück, dass du lebst.“ – „Er muss mir sehr ähnlich sein, der andere Milan“, dachte er.
„Entschuldige“, meldete sich der Zweite – an die Frau gewandt. „Ich bin Mareis, verantwortlich für die Sicherheitsbelange auf dieser Insel.“ Er machte eine umschreibende Armbewegung in den Raum hinein. „Es gab ein paar Vorfälle. Vorsicht ist angebracht, du verstehst!“
„Aber freilich“, rief Alina fröhlich. „Ich freu mich, Milan.“
„Also – mich braucht ihr wohl nicht.“ Mareis lächelte fein, deutete tatsächlich eine Verbeugung an und ging.
„Ich freu mich so“, wiederholte Alina, und sie hielt den Mann auf Abstand und betrachtete aufmerksam sein Gesicht. „Wir sind doch ein wenig älter geworden, hm? Die grauen Schläfen stehen dir gut. Aber erzähle, wie bist du hierher geraten, warum hast du deinen ursprünglichen Plan aufgegeben, was ist mit der Vereinigung…?“
„Langsam, langsam…“ Er lachte ein wenig gekünstelt. „Lass uns erst mal hier verschwinden, und dann erzählst du mir, wie es dir in den letzten Stunden ergangen ist, was du nach dem Unfall ausgestanden hast, und untersuchen solltest du dich auch lassen, du bist verletzt!“ Bei Alinas Fragerei wurde es Milan mulmig, und es bestand wohl kein Zweifel, dass man ihn seitens der Agentur und er sich selber auch – schließlich wies die Akte wohl auf diese Alina hin – auf diesen Fall miserabel vorbereitet hatte. Und obwohl ihm die Frau durchaus sympathisch schien und auf Anhieb gefiel, dachte er einen Augenblick, dass es weniger kompliziert gewesen wäre, hätte der Bootsunfall einen anderen Verlauf genommen. Nun galt es, Zeit zu gewinnen, Instruktionen einzuholen, aus der Situation das Beste zu machen. Das hieß in erster Linie, die Gefahr einer Enttarnung zu minimieren. „Du warst auf dem Mars?“, fragte er. Sogleich ärgerte er sich, und prompt kam das Echo:
Alina blickte ein wenig erstaunt. „Ja, aber das weißt du doch.“ Und plötzlich wurde ihr bewusst: er hat mich Alina genannt, mit Betonung auf dem I.
„Ich, ich meine – immerhin liegt eine lange Zeit dazwischen… Du bist also erst jetzt zurückgekehrt! Muss strapaziös gewesen sein.“
„Es ging. Die Reise ist langweilig“, antwortete sie ohne Arg. „Ich muss auch wieder zurück. Es gibt einiges zu untersuchen, wofür wir oben nicht genügend Voraussetzungen haben. In Berlin mache ich das. Du hast sicher davon gehört, dass hoch entwickelte Fauna entdeckt wurde. Mein Ressort.“
„Interessant! Davon musst du mir mehr erzählen. Aber nun raus hier. Wie lange kannst du bleiben?“ Er mühte sich um Beiläufigkeit.
„Im Ganzen habe ich um die zehn Tage Zeit… Keine Bange…“, fügte sie hinzu, als sie bemerkte, dass er ein wenig die Stirn runzelte, „ich kann mir denken, dass euch die Arbeit über den Kopf wächst. Sag, wie lange du mich ertragen kannst oder – darfst. Zwei, drei Tage…?“
Milan spürte Erleichterung. „Es ist nur – ich habe im Augenblick einige Schwierigkeiten. Falsche Fundamente… Terminverzug, naja“, er winkte ab. „Aber zeitweise kann ich mich bestimmt frei machen. Ich freue mich, dass du da bist!“
Alina sah ihn abermals prüfend an. „Du musst nicht befürchten, Milan“, sagte sie leise, „dass ich dir auf die Nerven falle.“ Sie fasste nach seiner Hand. „Wir hatten eine schöne Zeit miteinander, aber das ist vorbei. Ich freue mich einfach, dich wiederzusehn – in Freundschaft. Aber wenn dir mein Hereinschneien Schwierigkeiten bereitet – wenn du nicht allein lebst –, sag‘s, und ich bin weg. Freunde vertragen das.“ Sie versetzte ihm einen leichten Rippenstoß. „Also – gehen wir! Wohin?“
„Ein Gästehaus existiert nicht, noch nicht. Im Allgemeinen gibt‘s hier keine Besucher. Also zu meinem Wohncontainer…“, er zögerte. „Schon wieder ein Lapsus?“, dachte er. „Dort wäre genug Platz“, sagte er und sah sie fragend an.
„Okay – habt ihr einen Laden oder so etwas hier? Meine Reisetasche liegt auf den Meeresgrund. Ein paar Kleinigkeiten brauchte ich.“
„Ein Magazin, liegt auf unserem Weg. Aber versprich dir nicht allzu viel davon.“
Mit dem Stichwort „Meeresgrund“ wurde Milan an sein Gespräch mit dieser Bootsführerin Pamela erinnert. „Hast du eine Ahnung, wie es zu dem Bootsunglück gekommen ist?“
Alina schüttelte den Kopf. „Es sind so viele Klippen hier – und das war ja irgendwie auch mein Glück, dass ich auf eine geschleudert wurde. Nein, ich sah etwas Glattes, Graues – ich weiß noch, dass ich dachte: ,ein Wal’ –, und dann hat es gekracht.“
„Ein Wal…“, es war, als sinne Milan dem Wort nach. „Wer ein Wachboot fährt, sollte sich eigentlich im Gewässer auskennen, und dümmlich erschien mir diese Pamela nicht.“
„Pamela?“
„Die Bootsführerin, ich hab mit ihr gesprochen. Die haben sie ohnmächtig aus dem Wasser gezogen.
Dass du an Bord warst, haben die vom Rettungsboot nicht gewusst und deshalb nicht nach dir gesucht. Und ich habe keinen Argwohn geschöpft, als ich hörte, dass eine Frau gerettet wurde. Ich habe nicht mit einem weiblichen Bootsführer gerechnet.“
„Irrungen und Wirrungen“, zitierte Alina lachend, nahm ihre noch feuchten Kleider über den Arm und wandte sich zur Tür.
Milan folgte ihr nachdenklich. „Ein Wal – so ein Unsinn!“, dachte er.
Alina kaufte Kleinigkeiten: Toilettenartikel, Unterwäsche und einige Lebensmittel, weil Milan eingestand, an dieses und jenes nicht gedacht zu haben. „Ach, nehmen wir doch noch eine Dose Kamtschatka-Krabben“, und schon bediente sie den Automaten. „Die hast du doch so gern, ich mach uns einen Salat – wie früher!“
Eine Sekunde blickte der Angesprochene irritiert. Dann sagte er: „O ja – aber du solltest dir keine Umstände machen!“ Er packte die Dose ein, in der Hoffnung, sie in irgend einer Weise Alina aus dem Gedächtnis zu bringen. Krabben konnte er noch nie ausstehen.

Unmittelbar gegenüber seiner konnte Milan Alina im selben Container in einer Einraumwohnung unterbringen. Er wies sie in das Wenige ein, entschuldigte sich dann für die nächsten Stunden, was Alina durchaus zustatten kam, so übernächtigt und müde, wie sie sich fühlte.

Als Milan an ihre Tür klopfte, sie gleichsam weckte, dämmerte bereits die Nacht herauf.
„Hallo, Abendessen!“, rief er. „Komm rüber!“ Eingedenk der drohenden Krabben hatte er für die Verhältnisse auf der Insel ein durchaus festliches Arrangement an Speisen zusammengestellt, sogar mit glänzenden Gläsern, Servietten, einer Kerze und einem Blumengesteck.
Alina honorierte dieses mit großem Lob und innerer Verwunderung. „Du wächst ja über dich hinaus“, anerkannte sie. Und mit leisem Spott: „Wirst du am Ende noch Romantiker?“
Milan goss roten Wein ein; er biss sich auf die Lippen. „Warum, zum Teufel, muss ich vorprellen“, dachte er. „Hab ich mir nicht vorgenommen, sie agieren zu lassen und auf sie zu reagieren? Und wieso stelle ich mir dann selber Fußangeln? Es waren die Krabben!“, und bei dieser Begründung musste er doch innerlich lächeln. „Also – nochmal: Herzlich willkommen, Alina“, sagte er, indem er das Glas hob.
„Er trägt einen Ring?“, stellte Alina bei sich ein wenig verwundert fest, als sie an der erhobenen Hand Milans den schwarzen Stein erblickte. „Früher hat er sich über jeden Mann, der ein derartiges Schmuckstück trug, lustig gemacht, ihn als einen eitlen Pinkel bezeichnet.“
„Du nennst mich auf einmal Alina, betonst das I?“
Milan wurde es siedend heiß. „Ich, ich – ach, weißt du…“, er suchte nach Worten, „in meinem letzten Quartier war ein, ein so kleines Mädchen, eine Vierjährige, die rief man Alina…“, Milan lächelte erleichtert ob seines Einfalls, „mit Betonung auf dem I. Und das gefiel mir gut. Es hat sich wohl festgesetzt.“
„Na, wenn es ein kleines Mädchen war…“, scherzte Alina. Einen Augenblick dachte sie, dass eine solche Gedächtniskapriole wohl doch ein wenig merkwürdig sei.
Während des Essens nötigte Alina: „So – nun erzähle! Weshalb bist du von deinem Vorhaben, fünfzig Jahre zu schlafen, so gründlich abgewichen? Hat man die Vereinigung so schnell aufgelöst, dass es keine Voraussetzung mehr gab…?“
„Was für eine Vereinigung, verdammt“, dachte Milan.
„Oder war das mit dem Schlafen nur eine heldenhafte Geste…“, sie lächelte spöttisch und biss in ein Hähnchenbein, „den Weltschmerz unserer Trennung zu demonstrieren? Entschuldige! Aber gewundert hat es mich schon, als ich erfuhr, dass du hier gelandet bist.“
Milan goss Wein nach und animierte zum Trinken, auch in der Hoffnung, der Alkohol werde eine unwägbare Fragerei alsbald verharmlosen. „Genau das war es!“, behauptete er. „Das Angebot hier hat meine Pläne umgestoßen. Neuland, risikobehaftet, das ist doch etwas. Dabei sein zu können, wenn etwas Großes geschieht…“ Er sah sie treuherzig an.
„Ich freu mich für dich“, antwortete Alina. „Schon allein deshalb, weil ich dich ja nicht angetroffen hätte, wenn du schlafen gegangen wärst.“ Sie lachte. „Früher hätte er um keinen Preis ein einmal gefasstes Vorhaben wie dieses aufgegeben“, dachte sie. „Wer weiß, ob wir uns getrennt hätten, wenn er ein Quäntchen anpassungsfähiger oder gar bereit gewesen wäre, eine Entscheidung zu revidieren.“
„Und die Vereinigung?“, fragte Alina. „Habt ihr sie aufgelöst oder ist sie aufgelöst worden? Da war doch Schlimmes im Gange.“
In der Meinung, die Details aus der Vergangenheit des Mannes, dessen Identität er nun angenommen hatte, nicht wirklich parat haben zu müssen, hatte Milan sich Einzelheiten nicht richtig eingeprägt, sich nur das für ihn vermeintlich Wichtigste gemerkt und den gekennzeichneten Teil der Akte weisungsgemäß vernichtet. Seit Alina das erste Mal von der Vereinigung gesprochen hatte, zermarterte er sich das Hirn, was es wohl damit auf sich hatte. Es musste mit dem Schlafengehen, auf dem sie herumritt, unmittelbar zusammenhängen. „Schlafen“, dachte er. „Der Milan, der ich jetzt bin, hatte die absurde Absicht, sich fünfzig Jahre einschläfern zu lassen. Das ist ‘s!“ Milan atmete auf. „Es gab doch eine Vereinigung von solchen Welt-, nein Lebensverbesserern, die ihren Anhängern ein zweites Leben bescheren wollten, indem sie sie, in der Hoffnung auf bessere Zeiten, Epochen verschlafen ließen. Und es soll sogar funktioniert haben, das mit dem Dauerschlaf. Man hat davon gehört und auch, dass die Kirche…“
„Eigentlich aufgelöst worden“, antwortete Milan zaghaft. Er fühlte sich unsicher, langte über den Tisch, um sich eine Gurke zu nehmen, und stieß mit dem Ellbogen – natürlich wie unabsichtlich – sein Weinglas um. „Hoppla“, sagte er. „Ich Taps!“
Alina lachte und rückte vom Tisch ab; Milan tupfte mit der Serviette die Flüssigkeit auf. „Ich hole eine neue Flasche“, sagte er, und er überlegte intensiv, wie er den Dingen eine Wende geben könnte.
Als er an den Tisch zurückkehrte, trat er hinter Alinas Stuhl, beugte sich vor, stellte über sie hinweg die Flasche auf den Tisch und im Zurückgehen küsste er Alina auf den Hals.
Alina reagierte überrascht, aber moderat. Sie wich mit dem Oberkörper ein wenig zurück, wandte ihm das Gesicht zu und fragte mit gerunzelter Stirn und einem Lächeln: „Alte Zeiten…?“
„Ein bisschen…?“, und er streckte die Hände nach ihr aus.
Alina erhob sich langsam, trat an Milan heran, schmiegte sich an ihn und lehnte den Kopf an seine Schulter.
„Ich…“, begann Milan.
„Sag nichts.“ Alina löste sich sacht, nahm Milan an die Hand und zog ihn zur Schlafstatt…

Als Alina erwachte, benötigte sie lange Sekunden, bis sie in ihr Umfeld und das jüngste Geschehen hineinfand.

Hellwach wurde sie, als sie neben sich tastete und feststellte, dass Milan bereits aufgestanden war.
Alina entspannte, schloss die Augen und genoss das Glücksgefühl, das sie seit dem Abend gefangen genommen und das in seinen Armen diese Steigerung erfahren hatte. Nur ganz im Unterbewusstsein sagte sie sich: „Ich habe es nicht wirklich beabsichtigt, als ich zur Insel fuhr, es hat sich einfach ergeben. Kein bisschen hast du dich gewehrt, im Gegenteil…“ Alina lächelte im Zwiegespräch mit sich. „Und wie der Mann sich verändert hat! Ob es mit dem Älterwerden zusammenhängt, dass man jede Sekunde auslebt, jede Phase genießt, dem anderen sich rückhaltlos zuwendet? Er muss durch sein Erleben, sein Enttäuschtsein zu einer anderen, einer höheren Lebensqualität gefunden haben! Ein neuer Anfang für uns?“ Alina schüttelte den Kopf. „Nein, eine Vollendung, ein wunderbarer Abschluss einer wunderbaren – ja, gewiss, alles in allem, wunderbaren Beziehung. Er baut sein HAARP, ich begrüne den Mars, und beide werden wir diese Erinnerung haben!“
Milan kam nackt aus der Badkabine. Als er sie munter sah, beugte er sich über sie, gab ihr einen spitzen Kuss und sagte fröhlich: „Hallo, guten Morgen – ich muss leider gleich los, schlaf du weiter. Ich denke, dass ich mich ab Mittag freimachen kann – Festland? Ich würde versuchen, die Genehmigung zu bekommen.“
Alina nickte nachdrücklich. „Schön“, sagte sie. „Zum Kolosseum. – Oh, wo hast du dein Mäuschen gelassen?“
Milan verhielt einen Augenblick, als wäre er in Klebstoff getreten. Er hatte Alina den Rücken zugekehrt und sich in Richtung Kleiderbox entfernt, als ihn ihr Ruf ereilte.
„Was für ein Mäuschen?“, fragte er hellhörig, ohne sich umzudrehen.
„Nun, das kleine Fellchen auf der linken Hinterbacke.“
„Ach das“, sagte er so gleichgültig wie möglich. „Das hab ich wegmachen lassen, weil – weil, es hätte eine Wucherung werden können. Wo, wo ist denn die graue Hose…“ Er befand sich an der Box und wühlte in den Kleidungsstücken, hatte sich aber so gestellt, dass Alina seine Hinterpartie nicht mehr einsehen konnte.
„Das haben die aber gut gemacht. Nichts mehr zu sehen, nicht die kleinste Narbe“, stellte Alina dennoch fest.
„Mit Laser“, murmelte Milan. „Ah, da ist sie ja!“ Es klang erfreut, und er entnahm der Box das Kleidungsstück.

Alina vertrödelte den Vormittag. Sie frühstückte ausgiebig, räumte ein wenig auf und begab sich danach ins Freie.

Es war ein lauer Sommertag mit Fotografierwolken, die die Sonnenstrahlen dosierten, und es wehte ein leichter Wind von See her, der keine drückende Wärme aufkommen ließ.

Alina fühlte sich wohl wie selten. Sie inspizierte das Wohnareal, insgesamt zwar trist, weil aus gleichartigen Containern zusammengesetzt, aber geschickt in den Buschwald integriert, doch eine gewisse Behaglichkeit vermittelnd. Sie entdeckte noch einige Verkaufsautomaten, an denen sie beim Bootsunfall verloren gegangene Kleinigkeiten ersetzte. Diese und einige Lebensmittel deponierte sie in der Wohnung und machte sich zu einem größeren Erkundungsgang auf, ungeachtet des Umstandes, dass sie schon im Wohngebiet bemerkt hatte, dass ihr abwechselnd zwei Leute, ein junger Mann und eine Frau, so unauffällig wie möglich folgten. Es fiel ihr deshalb beizeiten auf, weil sich auf Wegen und Straßen um diese Stunde kaum Menschen bewegten. „Sollen sie“, dachte Alina ein wenig belustigt, „wenn es ihr Sicherheitsbedürfnis verlangt und befriedigt.“

Sie ging dem Lärm nach und befand sich nach dem Passieren eines Buschstreifens staunend an der Einfriedung des Antennenfeldes. So hatte sie sich das, auch nach intensiverem Studium des HAARP-Projekts, nicht vorgestellt, so gewaltig und – beängstigend. Wie ein gespenstischer Wald standen bizarr die mächtigen Masten mit den filigran wirkenden Antennen darauf, und rechter Hand, dort wo mit schwerem Gerät Fundamentklötze beseitigt und bereits neue gegossen wurden, setzte sich das Ganze noch unübersehbar fort. Zwischen Maschinen und Leuten glaubte sie auch Milan auszumachen, aber sie hatte nicht vor, ihn aufzusuchen.

Gedankenvoll sah sie dem Treiben hinter dem Zaun eine Weile zu. Sie dachte an die unvorstellbar große Energiemenge – eine, wie sie noch niemals auf eine derartige Fläche konzentriert worden war –, die pulsierend in die Ionosphäre geschossen werden würde. „Und wenn die Skeptiker, die Kritiker und Gegner Recht behielten? Wenn neben den gewünschten, bekannten Effekten andere, bislang unentdeckte, gefährliche auftreten, wenn die dort oben durch den Beschuss erzeugte Sekundärenergie eine globale Kettenreaktion…?“ Alina seufzte. Sie wusste, dass ihre Kenntnisse um das Vorhaben nicht ausreichten, Eventualitäten und Risiko abzuwägen. Und eigentlich wollte sie das auch nicht. Sie hatte das Empfinden, es lebt sich ruhiger, fröhlicher, wenn man um Gefahren, die auf einen lauern mögen, nicht weiß.

„Und drei solche Anlagen baut man gegenwärtig auf der Erde“, repetierte sie, was sie von Milan erfahren hatte, und es bedeutete ihr wenig, dass diese hier auf Unije die größte sein sollte.

Der Buschwald schirmte den Seewind ab, und Alina wurde es warm. Sie spazierte zum Strand, betrat das Felsplateau, betrachtete die kleinen Wellen, die sich am Gestein brachen, und sie konnte sich eines Schauderns nicht erwehren. Wenige Dutzend Meter linker Hand ging die Felsmauer in einen unwegsamen, steinigen Strand über, eine der Stellen, an der sie stolpernd und sich stoßend vor wenigen Stunden das Ufer erreicht hatte, erschöpft und arg zerschunden. Und erst in diesem Augenblick, nicht abgelenkt durch ein lebhaftes Umfeld, durch Milans Zärtlichkeit und ihren Glückstaumel, empfand sie, wie nahe sie dem Ende von all diesem gewesen war. „Ade, grüner Mars, ade, Connan, ade, Erde, Milan…“

Alina fasste sich. Mit einer Art Galgenhumor sagte sie laut: „Milan sowieso! Er ist doch auf Dauer nur glücklich mit seinen Antennen. Erst die Vereinigung, jetzt die Masten…“ Alina lachte sarkastisch. Langsam öffnete sie ihre Kleider, ließ sie fallen, wo sie stand, und hechtete mit einem flachen Sprung ins Wasser.

„Da habt ihr mich wieder“, rief sie, als sie auftauchte und die flachen Wellen sie wiegten, „aber für immer bekommt ihr mich nicht!“

„Hallo – nicht so weit hinaus!“ rief es vom Strandweg her.

Alina beschattete die Augen. Dort standen zwei in Tarnanzügen mit umgehängten Waffen, eine kleine und eine große Gestalt, und wenn sie sich nicht sehr täuschte, die beiden, die sie an nämlicher Stelle vor etwas mehr als 20 Stunden hoppgenommen hatten. Alina reckte sich empor und winkte lebhaft. Und es wurde vom Ufer her fröhlich erwidert.

Milan war es unter der Mahnung, den Zustand baldmöglichst zu beenden, gelungen, den Nachmittag freizubekommen, trotz der angespannten Situation im Antennenbau. „Komm, komm“, rief er bereits von der Tür her der auf dem Bett lümmelnden Alina zu, „anziehn. Auf nach Pula!“

Alina richtete sich ein wenig träge auf, ließ sich die Zeit sagen: neunuhrachtundneunzig, gleich Mittag. Und sie begann sich anzuziehen.

Als Milan sich ebenfalls an der Box mit Kleidern beschäftigte, fiepte es, und einen Augenblick dachte Alina, es sei ein Tinnitus.

Es schien, als erschrecke dieses leise Fiepen Milan. Hastig schritt er zu seinem Overall, suchte nervös nach einer Tasche, entnahm etwas, das so klein war, dass es in seiner Hand gleichsam verschwand, und hielt es sich ans Ohr. „Zweihundertdreiundsiebzig“, meldete er sich leise.

Alina, zunächst uninteressiert, stutzte, als sie seine Kennung vernahm, und strengte sich dann an, zu hören, was da gesprochen wurde. Aber es war nicht viel und für sie Unverständliches, wobei sie den deutlichen Eindruck hatte, Milan formuliere so, dass nur sein Gesprächsteilnehmer, nicht aber ein anderer Zuhörer, sie, Alina, ihn verstand.

Er sagte, unterbrochen von Hörpausen: „Ja!“ – „Hier bei mir.“ – „Ach, deshalb!“ – „Nein!“ Das klang ziemlich heftig und bestimmt. „Weil sich eine längere Reise anbahnt.“ – „Ende.“ Das letzte Wort sagte er sehr nachdenklich. Und er sann dem Gespräch noch nach, als Alina fragte: „Was war?“

Milan schüttelte den Kopf. „Dienstlich – es geht um die Lieferung der Masten.“
Alina wusste, dass er log. „Was für eine Reise bahnt sich an?“, fragte sie.
Milan biss sich auf die Lippen. „Hassim, mein Abteilungsleiter, muss demnächst wegen der Brennzellen nach – nach Paris. Er wollte dabei sein, wenn nach dem Fiasko der erste Mast… Aber lassen wir das doch! Bist du fertig?“
„Ist das der Milan, den ich kenne?“, fragte sich Alina. „Gelogen – oder: so schlecht gelogen hat der doch nie. Und was hat er vor mir zu verbergen, noch dazu, wenn es so harmlos sein soll?“ – „Hast du Schwierigkeiten?“, wollte sie wissen.
„Warum?“ Es klang fast heftig. „Wie kommst du darauf?“
„Nur so, ich hatte den Eindruck, du hättest eine schlechte Nachricht… Du wirkst auch ein bisschen nervös.“
„Unsinn. Freilich ist das mit den Fundamenten nicht schön. Wir haben Terminverzug. Und nervös sind wir alle. Die Konkurrenz ist uns auf den Fersen. Aber das soll uns beide heute alles nicht stören. Auf geht‘s!“, und er beugte sich zu ihr, gab ihr einen kleinen Kuss auf die Stirn, fasste nach ihren Händen und zog sie empor.
Milan hatte vom Festland ein Boot angefordert, das Alina und ihn nach Pula brachte; betriebseigene Fahrzeuge standen für private Zwecke nicht zur Verfügung, in der herrschenden Situation – höchste Sicherheitsstufe – schon gar nicht.
Er gab sich außerordentlich zuvorkommend, aufmerksam und galant, was Alina ein uns andere Mal in Verwunderung versetzte. Früher, so erinnerte sie sich nur zu gut, steckten seine Gedanken auch in seiner Freizeit in den Projekten, mit denen er sich gerade beschäftigte; er musste eher auf private Annehmlichkeiten geschubst werden, als selber initiativ zu sein. Alina war sich stets sicher gewesen, dass er sie liebte, aber auf seine Art; es intensiv im täglichen Umgang zu zeigen, lag ihm nicht. Und nun – nicht als Liebhaber, sondern als Freund? Fiel es ihm leichter, weil sich Emotionen zwischen ihnen auf einer anderen Ebene bewegten, sodass Zukunftsängste keinen Nährboden hatten? Ihr kam sein mittägliches Verhalten in den Sinn. Und sie glaubte sich sicher, dass dieses Gespräch mit ihrem Besuch zusammenhing. Warum vertraute er ihr nicht? Ungereimtheiten reihten sich in Alinas Erinnern. „Meinen Marsaufenthalt hatte er nicht parat, mit der Vereinigung für das zweite Leben wusste er zunächst nichts anzufangen, sein Verhalten in der Nacht war so anders…“, es war Alina, als ob sie bei diesem Gedanken die wohligen Schauer abermals fühlte, „Alina hat er falsch betont, das verschwundene Mäuschen, sein Schwindeln – und jetzt diese ungewohnten Aufmerksamkeiten… Gut, es sind Jahre vergangen, aber kann sich ein Mensch in seinem Alter im Wesen so vielfach ändern?“
Sie saßen auf einer Bank im kleinen Park mit Blick auf die Ruine des Kolosseums. Alina musterte Milan verstohlen von der Seite. Sein Haar war jetzt grau und – im Gegensatz zu früher – voll. Er habe das neue Mittel angewendet, hatte er auf ihre Frage geantwortet. Und dieses wirke tatsächlich; selbst auf Vollglatzen würde es wieder sprießen. Sein Gesicht hatte eine leichte Polsterung erfahren – wie sein Körper auch –, was ihm gut stand. Die große, etwas gekrümmte Nase hatte an Dominanz verloren. „Was hat den Mann so verändert?“, dachte Alina. „Eine Beziehung, ein Grunderlebnis? Ist es überhaupt der Milan, den ich kenne?“ fragte sie sich zum zweiten Mal. „Wenn nicht, welcher sonst mit diesen Daten?“ Gleichzeitig wusste Alina, dass sie das Treffen mit diesem Milan nie bereuen würde.
„Gehen wir“, sagte Milan.
Sie warteten nicht auf die offizielle Führung, stiegen ein in das kühle Bauwerk und ließen sich von der Allgewalt der Historie gefangen nehmen. Alsbald beschloss Alina, unfruchtbares Grübeln beiseite zu schieben, den Nachmittag zu genießen, Milan, so wie er sich jetzt gab, zu akzeptieren – nur zu gern – und nicht nur die Zukunft, sondern auch das Morgen zu verdrängen.
Sie kletterten übermütig in den alten Mauern des Kolosseums herum, gedachten mit Schaudern angesichts des Löwenganges der grausamen Gladiatoren-Kämpfe, ließen sich durch die düsteren Katakomben führen und bewunderten Hunderte Amphoren, die den alten Römern den Wein frisch hielten.
Apropos Wein: Alina lud Milan in ein altes Restaurant ein, das den herben, dunkelroten Einheimischen ausschenkte, der ihnen später in der noch herrschenden Tageshitze den Gang zum Hafen beschwingt machte. So fiel es ihnen auch leichter, eine kleine Gruppe von Menschen zu betrachten: eine Frau mit einem amputierten Bein in einem Rollstuhl, den Stumpf über dem Knie entblößt, daneben ein jüngerer Mann, vielleicht ihr Sohn, mit einem Schild, auf dem stand:
Ein alter Stuhl nur für den armen Mann, ein neues Bein nur, der sich’s leisten kann.
Dazu hatten sich ein Dutzend Leute geschart, die mit steinernen Gesichtern auf die meist achtlos vorbeieilenden Passanten sahen.
Alina verhielt den Schritt, erschrocken und unangenehm berührt.
Milan griff nach ihrer Hand und zog die leicht Widerstrebende weiter in Richtung Hafen.
„Aber…“, protestierte sie.
„Die Regeneration von Gliedern und Organen und überhaupt gentechnische Manipulationen sind sehr aufwendig, zum Beispiel die Erfüllung des Wunsches nach einem Kind mit spezifischen Eigenschaften oder Merkmalen“, argumentierte er in gleichgültigem Tonfall. „Aber das weißt du eh. Jeder kann sich das ganz sicher nicht leisten. Natürlich teilt diese Situation die Menschen in zwei Kategorien, in jene, die es können, und die, die es nicht können.“
„Und wenn nichts dagegen getan wird, führt‘s zur bestimmenden Herrenrasse, die sich schöner, gesünder und intelligenter gemacht hat – kraft ihres Vermögens“, warf Alina bitter ein.
„Möglich, aber wie willst du das ändern? Bei uns in der Agentur gibt es zum Beispiel eine attraktive Frau, die…“ Er brach innerlich erschrocken den Satz ab. „Meine Güte, ich verplappere mich noch wegen so was“, dachte er, legte einen Arm um Alinas Schulter und mahnte: „Komm, unser Boot wird schon bereitstehen. Solche Leute sind an ihrem Unglück meist selber schuld – wer weiß, wie die Frau um ihr Bein gekommen ist.“
„Es ist nicht der Milan, den ich kenne!“ Mit einem Mal war Alina sich sicher, auch wenn die Frage, welcher dann?, ungeklärt blieb.
„Milan!“, rief sie dem Mann, der, am Wasser angekommen, einige Schritte vorausgeeilt war, hinterher.
Der Angerufene blieb zögernd stehen, wandte sich ihr zu.
Alina erreichte ihn. Sie legte die Arme um seinen Hals und barg für Augenblicke den Kopf an seiner Schulter. „Es war schön, wunderschön, dich getroffen zu haben“, sagte sie leise. „Ich danke dir sehr!“ Sie küsste ihn. „Leb wohl, Milan Nowatschek!“ Schnell löste sie sich von ihm und eilte der Häuserzeile zu, betrat eine Gasse; die Dunkelheit verschluckte ihre Gestalt.
Milan stand etliche Sekunden überrascht, unfähig, in irgendeiner Weise zu handeln. Dann, als die Frau nur noch als Schemen zu erkennen war, rief er: „Alina, Alina, warte, ich…“ Er tat einige Schritte in ihre Richtung. Dann ließ er die ausgestreckten Arme kraftlos sinken.
Eine Weile verharrte er noch regungslos und gedankenleer. Dann setzte langsam seine Ratio ein. Was hatte Mareis gesagt: „Sieh zu, dass der Zustand bald ein Ende hat“. Und beinahe wörtlich kam ihm das außergewöhnliche mittägliche Gespräch mit Cathleen Creff in den Kopf, ihre Worte: „Wir haben gehört, diese Alina lebt?“ – „Wo ist sie?“ – „Um alle Eventualitäten auszuschalten, hatte der Chef – das Unglück angeordnet.“ – „Willst du den Fehler nicht – korrigieren?“ – „Und warum nicht?“ Die Frage hatte sie suggestiv, unwillig gestellt. „Dir ist klar, was geschehen kann, wenn durch diese Frau unser Vorhaben ein Misserfolg wird? Denke nach und – handle! Ende.“
Milan schritt die Mauer entlang. Dann entdeckte er das Boot. „Zurück zur Insel“, sagte er, als er es erreichte und der Skipper ihm erwartungsvoll entgegensah.
„Die Frau?“, fragte der Mann verwundert.
„Die Frau bleibt hier.“

14. Kapitel

Ahmed Hassim strahlte Ruhe aus. Nur seine Hände, die er auf dem Rücken verschränkt hielt, zeugten von Nervosität; er walkte unentwegt die Finger, und ab und an strich er, die Handflächen trocknend, über die Hose.

Langsam füllte sich der Raum um den Koloss von Generator und Antriebsmaschine mit Angehörigen der Leitung und Verwaltung der Company, mit Arbeitern und Ingenieuren, die den Stapellauf des ersten Stromerzeugers nicht nur miterleben, sondern feierlich begehen wollten.

Das Eintreffen Eriksons, des hiesigen Chefs, gab gleichermaßen das Signal zum Beginn der Zeremonie, so jedenfalls verstand Ahmed das Handzeichen des Persönlichen Referenten, der Blickkontakt mit ihm gesucht hatte.

Ahmed dienerte Erikson an das provisorische Pult und deutete auf den darauf befestigten überdimensionalen roten Knopf.

Erikson sagte leise: „Danke“, an Ahmed gewandt. Dann überschaute er die Versammelten und begann seine Ansprache: „Ein großer Tag, Freunde! Der erste eigene Strom, ein Tropfen noch von vielen, die das Gefäß füllen werden…“ Er vollzog eine theatralische Armbewegung über die benachbarten halb montierten Maschinen und die noch nicht in Anspruch genommenen Fundamente.

„Was für ein toller Poet“, spöttelte Ahmed in Gedanken. „Ein gewaltiger Strom wird daraus hervorbrechen – im wahrsten Sinne des Wortes – und die Menschheit ein riesiges Stück in die Zukunft tragen. Noch nie ist ein Werk solcher Tragweite verwirklicht worden. Freilich, es gibt die Orbitalstationen, Marsstützpunkte und Unterwasserinstitute. Alles zwar ansehnliche, aber seit langem vorausgedachte und in ihrer Auswirkung überschaubare Objekte. Man musste nur das Kapital haben und sie bauen. Hier geschieht etwas ganz anderes. Wir zähmen unseren Planeten, zwingen ihn, für uns zu arbeiten, seine Kräfte uns zur Verfügung zu stellen. Wir werden durch die Rückstrahlung aus der Ionosphäre feststellen, wo uns die Erde Nutzbringendes verbirgt: Wasser für die Wüsten, Erze, fruchtbare Böden. Wir werden Großwetterabläufe in der Atmosphäre, Strömungen der Ozeane und selbst Bewegungen im Inneren unseres Planeten weit besser beobachten können als mit jedem Satelliten und den herkömmlichen Messverfahren. Und das allen Miesmachern zum Trotz, die da von Schädigungen und massiven Gleichgewichtsstörungen schwatzen. Es wird ihnen ergehen wie seinerzeit den Gegnern der Atomkraft oder der Gentechnik. Freilich, wie dort gilt es, Erfahrungen zu sammeln, Risiken auszuschalten. Und ich sage euch: In diesem Fall geschieht dies a priori! Es wird kein nicht vertretbares

Risiko geben!“

Erikson legte eine kleine Pause ein und fuhr in verändertem Tonfall fort: „Ihr seid dabei, Freunde. Ihr habt bislang Großartiges geleistet. Im Namen der Company sage ich euch Dank, und uns wünsche ich Durchhaltevermögen und weiteren Erfolg. In diesem Sinne: Start frei!“ Und er hieb mit der flachen Hand auf den roten Knopf, als wollte er ihn durch die Platte des Pultes schlagen.

Beifall kam auf, ein wenig dünn – vermutlich schluckten die Teilerwände den Schall.
Dann sprang hell hämmernd der Diesel an, und es wurde, je mehr er auf Touren kam, zunehmend unerträglich laut.
„Hat sich was mit Flüstermotoren“, dachte Ahmed hämisch.
Das Singen des Generators ging zunächst im Lärmen der Antriebsmaschine unter, wurde kräftiger, übersprang eine Schmerzgrenze und ähnelte dann einem dumpfen Pfeifen, das langsam, von Stufe zu Stufe schleifend, Oktaven erkletterte.
„Wann, zum Teufel, wird endlich die vereinbarte Hochbelastung erreicht sein?“ Ahmed blickte hinüber zum entfernten Container, in dem sich die Steuerzentrale und ihr Team befanden.
Die Leute wichen von der Maschine zurück. Noch immer fistelte der Ton höher.
Und da geschah es: Mit einer gewaltigen Detonation flog der Generator auseinander. Bruchstücke stoben wie von einem laufenden Mixer die Tropfen. Die Schreie der Menschen gingen unter im Geräusch berstenden und aufschlagenden Metalls und der explodierenden Zylinder des Diesels; denn offenbar, seiner Last ledig, übertourte er Augenblicke lang, bis seine Gehäuse, Pleuel und Wellen brachen.
Schlagartig verebbte der Zerberstungslärm. Und plötzlich gellten Schreie; Wehklagen und Wimmern füllten den Raum.
Leblose Körper lagen am Boden, blutüberströmte Menschen krochen, an den Wänden kauerten Leute im Schock, ziellos rannten andere umher – zwischen den Trümmern der Maschinen.
Der geborstene gewaltige Dieselmotor spie noch immer Flammen, aus zerrissenen Leitungen zischten Öle, Wasser und Treibstoff, der brodelnde Feuergarben zeugte.
Ahmed war nicht ohnmächtig. Langsam wich seine Benommenheit. Er fand sich unter dem Körper Eriksons, und über beide hatte sich das Pult gestülpt.
Der Chef regte sich.
Ahmed stemmte das Möbel empor und kippte es zur Seite, dann wälzte er Eriksons Körper herum und stützte sich auf den linken Ellenbogen. „Geht es?“, keuchte er.
Erikson richtete sich auf, saß benommen, offenbar stark geschockt, aber nicht verletzt.
Ahmed schüttelte ihn, redete mit schwerer Zunge auf ihn ein, selber noch von einem Schwindelanfall geplagt.
Dann kam das Signal der Rettungswagen rasch näher. Im Nu wimmelte der Platz von Helfern, deren Rufe sich mit dem Stöhnen und Schreien der Verletzten mischten.
Auch Ahmed Hassim wurde gepackt, routinehaft auf eine Trage geschnallt und in einen Wagen geschoben.
Später fand er sich mit Erikson in einem Raum wieder, aber der Leidensgefährte war noch nicht ansprechbar.

Sechs Tote und neunzehn Verletzte hatte die Havarie des ersten fertig gestellten Generators gefordert und im Umfeld großen Schaden angerichtet.

Wenige Stunden nach dem Ereignis rückte eine vom, Konsortium eingesetzte Untersuchungskommission an, die zunächst den Ort des Geschehens für jedermann auf der Insel sperrte und pausenlos Leute verhörte, beteiligte und unbeteiligte.

Eine Krisensitzung der Leitung jagte die andere; denn natürlich dachte niemand an eine weitere Montage der Aggregate, solange die Unfallursache ungeklärt blieb, und es ging darum, Zeitpläne und Logistik so zu gestalten, dass der Terminverzug möglichst gering ausfiel.

Das Ergebnis der Untersuchung allerdings schlug ein wie eine Bombe: Auf einer dieser Sitzungen verkündete der Leiter der Kommission, ein unangenehmer, blasierter Zeitgenosse, dass zweifelsfrei Sabotage vorliege. Die Ursache sei jedoch nicht auf der Insel gesetzt worden, sondern in den EMW, den Europäischen Maschinenwerken in Deutschland. Man habe einen völlig ungeeigneten Stahl für den Rotor des Generators verwendet; ein zu hoher Kohlenstoffanteil, der das Material so versprödete, dass es bei der hohen Belastung barst. Dass es sich um einen Sabotageakt handele, sei schon deshalb zweifelsfrei, weil der zuständige Verantwortliche spurlos verschwunden sei. Die Rotoren sämtlicher Maschinen seien aus dem nämlichen Material gefertigt und daher unbrauchbar. Man mühe sich nun im Werk, durch Sonderschichten und andere Maßnahmen, den Zeitverzug zu verringern. Selbstverständlich sei der Fall den Justizorganen übertragen worden.

Dann kam die Überraschung: „Ich bin bevollmächtigt, im Namen des Konsortiums folgenden Beschluss bekannt zu geben: Mit sofortiger Wirkung wird Herr Erikson von der Leitung des hiesigen Vorhabens der Company entbunden. Ab morgen übernimmt die Geschäfte Frau Fatima Narad. Sie wird am Vormittag eintreffen. Ich erwarte, dass sich die Übergabe zügig und reibungslos vollzieht!“

Milan Nowatschek betrachtete es als Glücksfall, dass er dem schockierenden Ereignis nicht beiwohnen musste. Er hatte in Vertretung Hassims den Fundamentneubau inspiziert und erfuhr somit erst später von der Katastrophe. Sein erster Gedanke galt der Agentur: Spielte man ein doppeltes Spiel? Gab es außer ihm, jenem in der Verwaltung und denen im UBoot noch weitere Leute Mannas’ auf der Insel? Haben sie die sechs Toten…? „Keine Leichen“ hieß es. Dann wieder kam die Art und Weise des Geschehens Milan sonderbar vor. Doch ein normaler Unfall? Schließlich handelte es sich um Generatoren neuer Konstruktion und für eine bisher nicht da gewesene Leistung.

Milan neigte mehr und mehr zu einer solchen Lesart, bis ihm das Ergebnis der Untersuchungen bekannt wurde. Eine Einflussnahme, wie sie dem Vorfall zu Grunde lag, traute er seiner Organisation durchaus zu. Dass Leute dabei draufgingen – nun ja, wer konnte ahnen, dass so viele beim Probelauf der Maschine in der Nähe herumstehen würden. Wenn aber die Agentur nicht… Cathleen Creff hatte bestritten, den Abschuss des Luftschiffes inszeniert zu haben, und sie hatte darauf aufmerksam gemacht, dass noch andere Interessenten den Bau des HAARP-Projekts verfolgen. Das hieße aber, sich nicht nur gegen eine Enttarnung durch die Company, sondern auch in einem wahrscheinlich weit gefährlicheren Konkurrenzkampf zu wappnen.

Die klärende Information entnahm Milan am Abend des Tages, an dem die Untersuchungsergebnisse bekannt gegeben worden waren, einem spontanen 18.00-Uhr-Ruf Cathleen Creffs: „Emzwei, welche Konsequenzen für den Bau zieht die Havarie des Generators nach sich? Terminverzug? Gibt es Anzeichen, dass sich noch andere Objekte im Visier der Konkurrenz befinden? Wo entstehen durch eure notwendige Umorganisation weitere neuralgische Punkte? Jetzt keine Antwort. Treffen plus zwei, minus sechs, Punkt eins. Bestätige! Ende.“

Milan überlegte, was ihn Dienstliches in 2 Tagen um 12 Uhr auf das kleine Plateau über den Brennzellen fuhren könnte, glaubte, dass ihm etwas einfallen werde, und gab das Bestätigungssignal.

Tags darauf, am Vormittag in der Kantine, traf er Ahmed, der ihn sogleich mit einer weiteren Neuigkeit überraschte: „Der Mareis ist ebenfalls abgelöst. Mangelnde Sicherheitsprophylaxe. Seine Position übernimmt Olch – der den Katakombenbau geleitet hat. Man vermutet Lücken im Sperrsystem. Angeblich schwirren undefinierbare Funksprüche herum. Du merkst ja selber, wie aufgescheucht man ist.“

„Umso bemerkenswerter Cathleens Vorhaben, die Insel zu besuchen“, dachte Milan. Dass sie die Gefahr etwa unterschätzte, glaubte er nicht.

Gegen Mittag traf mit einer Barkasse die Neue, Fatima Narad, ein. Sie wurde am Hafen von der Leitungscrew empfangen, an der Spitze Erikson, steinern, zurückhaltend mit formalen Floskeln.

Milan hatte es sich so eingerichtet, dass er am Kai die Anlandung von weiteren Antennenkabeln kontrollierte und so die steife Begrüßungsszene beobachten konnte.

Die Narad vermittelte eher den Eindruck einer drallen Fischverkäuferin, wie sie sich ab und an am Hafen in Pula als Touristenattraktion zur Schau stellten. Die neue Leiterin war groß von Wuchs und vollschlank. Sie trug unvorteilhaft kleidende enge Hosen und ein Obergewand, das über der Brust spannte. Ihr runder Kopf mit Stoppelfrisur machte den kleinen, vom vollen Gesicht zu Schlitzen gedrängten Augen mit flinken Hin- und Herbewegungen Konkurrenz.

Einen Eindruck, das riesige, komplizierte Baugeschehen eisern und sicher zu leiten, vermittelte sie nicht.
Nach der Begrüßung setzte sich die kleine Gruppe zum Verwaltungstrakt hin in Bewegung.
Sie hatten die ersten Stufen des Weges genommen, als eine entfernte dumpfe Detonation die Luft erzittern ließ. Man verhielt.
„Sprengt ihr?“, fragte die Narad.
Erikson sah zu Hassim. Der schüttelte den Kopf. „Vielleicht ein Überschall…“
Eriksons Mobilsprecher gab Signal. Er hörte mit unbewegtem Gesicht, beendete das Gespräch und sagte nach einer Pause, ohne jemanden anzuschaun: „Eine Explosion im Brennzellenareal.“

„Wir vermuten“, erläuterte Cathleen Creff, „dass hier das Naturcorps dahinter steckt. Wenn, müsste es ein Bekenntnis geben.“ Während sie sprach, streifte sie langsam den Tauchanzug ab.

Wie vereinbart, hatten sich Milan Nowatschek und Cathleen Creff auf dem kleinen Plateau über dem Standort der Brennzellen getroffen.

Milan hätte nachträglich am liebsten abgesagt; denn in dem Gebiet wechselten sich allerlei Untersucher ab. So auch an diesem Tag: Unter dem Fels liefen Leute umher, maßen, notierten, fotografierten. Ab und an drang ein Fetzen ihrer Rufe bis zum Felsplateau empor.

Auch für Milan bildete die Gewalteinwirkung im Areal den Vorwand, sich für Stunden von seiner eigentlichen Tätigkeit zu entfernen. Er hatte vorgegeben, den Ort des Geschehens zu besichtigen; schließlich galt es, den Schaden zu beheben und das Baugeschehen dort weiterzuführen; eine Aufgabe für das Team Hassim.

Durch die Wucht der Explosion waren Teile der Zellenverkleidung emporgeschleudert worden. Ein breiter, verbogener Blechstreifen lag auf dem Plateau, bildete gleichsam eine Brüstung.

Milan, der das Treiben unten beobachtet hatte, wendete sich seiner Besucherin zu. „Holla!“, rief er verhalten – erstaunt.
Cathleen Creff lag lang gestreckt auf ihrem Anzug, die Arme in der Hochhalte, mit geschlossenen Augen nackt in der Sonne. Ihr Gesicht drückte höchstes Wohlbehagen aus. Ohne die Lider zu öffnen, winkte sie mit gekrümmten Fingern und sagte: „Es war mir kühl geworden, musste ziemlich lange warten, bis ich auftauchen konnte. Na, komm schon!“
Milan warf noch einen Blick nach unten, dann kniete er neben Cathleen nieder. „Nerven hast du“, sagte er anerkennend und küsste ihre Schulter.
Später – sie lehnten beide am warmen Fels – sagte Cathleen: „Diese Alina – sie hält dich also für den Milan, den sie kennt!“
„Ja, er muss mir ziemlich ähnlich sein – aber das weißt du wohl?“ Sein Ton klang leicht lauernd, und er sah sie fragend an.
„Und sie hat keinen Verdacht geschöpft?“, fuhr die Frau, ohne auf Milan einzugehen, fort.
„Ich glaube nicht… Obwohl…“
„Obwohl was?“ Ihre Worte klangen scharf; sie beugte sich vor und blickte ihm ins Gesicht.
„Ein paar Mal meinte sie, ich hätte mich verändert. Belanglos! Belanglos schon deshalb, weil sie auf den Mars zurückkehrt. Sie bleibt ein paar Monate in Berlin. Wir haben uns endgültig verabschiedet.“
„Dennoch – sie ist eine latente Gefahr für unser Projekt. Du hättest…“ Sie brach den Satz ab.
„Projekt, Projekt“, sagte er ärgerlich. „Was ist das überhaupt für ein Projekt. Ich weiß, ich weiß!“ Er hob die Hände und wehrte so ihre Erwiderung ab. „Mitarbeiter der Agentur haben keine Fragen zu stellen. Ich sehe aber nicht, wohin unsere Interessen zielen.“
Cathleen lehnte sich zurück. Sie lächelte. „Das ist einfach.“ Sie sprach wie zu einem Schüler. „Wir verzögern den Bau, das heißt, damit verteuern wir ihn. Selbst die finanziellen Mittel des mächtigsten Konsortiums sind begrenzt – wenn damit nicht zu rechnen wäre, hätte Mannas die Finger davon gelassen. Und wenn es so weit ist, steigen wir zu günstigen Bedingungen ein.“
„Und doch über Leichen!“
Cathleen runzelte die Stirn. „Zum Selbstschutz, wie bei dieser…“ Sie brach ab.
„Alina – wolltest du sagen. Und die sechs Leute am Generator?“
Cathleen richtete sich abermals steif auf, offenbar in der Absicht, heftig zu reagieren. Doch dann sagte sie gemäßigt: „Der geht nicht auf unser Konto. Noch ist uns unbekannt, wer dahinter steckt. Aber natürlich helfen uns derartige Aktionen. Genau wie diese hier.“ Sie wies mit einem Kopfnicken zum Trümmerstück hin. „Aber jetzt berichte, auch wenn es dir nicht passt: Details zum Besuch dieser Frau. Was fiel ihr an dir auf, was tut sie in Berlin und wie lange? Ferner: Welche Verzögerungen im Baugeschehen sind nach den Ereignissen zu erwarten; werden die Sicherheitsmaßnahmen verändert, verstärkt? Wenn ja, wie? Denn schließlich…“, sie lächelte anzüglich, „bin ich nicht hier, nicht nur hier…“, verbesserte sie, „um deinen Luxuskörper zu genießen.“

„Mir liegen Informationen vor, dass die ALASKA HAARP STATION im November dieses Jahres den Probebetrieb aufnehmen will, die INDIA HAARP folgt im Dezember. Ich will die Tests im September und am Ersten des neuen Jahres Volllast!“ Fatima Narad lehnte sich zurück, blickte von einem zum anderen als in der Runde Protestgemurmel aufkam. „Gibt es dazu etwas zu sagen?“

„Die neuen Generatoren – meines Wissens gibt es zeitliche

Probleme bei der Fertigung“, warf Hassim zögerlich ein. „Deines Wissens. Konzentriere dich jetzt auf die Brennzellen
und den Windpark. Mit dem Solarstrom kannst du ebenfalls
rechnen. Bis zum Zeitpunkt werden auch etliche Generatoren
laufen. Und, wenn es stimmt, was ihr geplant habt, sind die Elektroenergieerzeuger weit überdimensioniert. Also! Die
Sendeanlage einschließlich Antennen?“
„Wird fertig, wenn…“
„Wenn was?“ Die Narad nahm eine Haltung wie ein
sprungbereiter Tiger an.
„Wenn keine abermalige Störung…“, ergänzte Olch
kleinlaut.
„Dazu komme ich sofort“, erwiderte sie bissig. Dann
erläuterte sie in knappen kategorischen Sätzen, wie die
nächsten Etappen zu gestalten seien; der Probetrieb könne
bereits mit zwei Dritteln der installierten Leistung und der
bereits angeschlossenen Antennen aufgenommen werden,
wenn die einzelnen Teilabschnitte gleichsam nach dem
Baukastenprinzip funktionstüchtig gestaltet würden. Das barg
Risiko, hatte aber dennoch Hand und Fuß. Hassim staunte, wie
die Frau in dieser kurzen Zeit das Wesentliche in den Griff
bekommen hatte und durchaus stimmige Schlussfolgerungen
ziehen konnte.
„Und nun zur Sicherheit!“ Sie beugte sich vor. „Ab sofort
wird das Arbeitsregime verändert, von vier auf drei Schichten.
Die frei werdenden Kräfte gehen in den Wachdienst.
Zusätzlich werden alle in der Leitung Tätigen in die
Sicherheitsaufgaben integriert, ich eingeschlossen. Rex Olch,
du legst mir in zwanzig Stunden einen entsprechenden
Einsatzplan vor. Die intensive Suche nach den Verbrechern
geht weiter. Es steht fest, dass die Sprengung der Zelle auf der
Insel ausgelöst wurde, also müssen sich die Banditen hier
befinden oder befunden haben. In diesem Zusammenhang sind
die elektronischen Unterwassersperren zu überprüfen und zu
verstärken. Der Personenverkehr von und nach der Insel ist auf
das Notwendigste zu beschränken und scharf zu kontrollieren.
Die intensive Überwachung des Luftraums habe ich bereits
eingeleitet. Jegliche fernmündliche Kommunikation wird registriert und vollständig aufgezeichnet. Private Kontakte sind bis auf weiteres untersagt. Das wäre doch gelacht, wenn wir das nicht in den Griff bekämen, verdammt nochmal!“ Sie hieb
mit der flachen Hand mäßig stark auf den Tisch.
Es entstand eine Pause. Die Chefin lehnte sich zurück,
betrachtete ihre wohlgepflegten hellblauen Fingernägel und
sagte wie beiläufig, ohne aufzublicken: „Die Festlegungen sind
bis in die unterste Ebene zu jedermann durchzustellen. Wem
sie nicht passen, verlässt bis übermorgen die Insel – ohne
Repressalien. Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt; die
Beratung ist zu Ende.“
Milan Nowatschek, der durch Hassim informiert wurde,
vertraute auf seine Instruktionen, nach denen der von ihm
benutzte Maser-Sender nicht angepeilt werden konnte, und gab
die Veränderungen in der Objektbewachung zum Fixzeitpunkt
an die Zentrale weiter, ungeachtet der Drohung, dass sämtliche
Signale registriert werden würden. Auch der Code sei nicht zu
knacken – so seine Kenntnis.
Die Zentrale auf den Laufenden zu halten, war die eine,
leichte Aufgabe. Die andere, den Bau permanent zu verzögern,
die weitaus schwierigere; aber gerade darauf hatte die Creff
gedrängt, verständlich bei den Absichten der Agentur und dem
nunmehr äußerst knapp bemessenen Zeitrahmen.
Mannas’ Pläne interessierten Milan eigentlich wenig; wichtig
schien ihm, nicht als Versager dazustehen, wenn er enttarnt
werden würde oder ihm kein Erfolg beschieden wäre. „Denk
an die Sendezentrale“, hatte die Creff gemahnt. „Der
neuralgischste Punkt überhaupt!“ Und sie hatte ihm eine
handtellergroße Dose überreicht mit den Worten: „Geh damit
äußerst vorsichtig um. Es sind so genannte Halblebewesen,
etwas ganz Neues! Sie fressen Beläge von Chips – nur, sie
müssen unmittelbar dorthin gelangen, wo Chips sind. Also:
Lass dir etwas einfallen!“
Der Wink war wohl unübersehbar – allein, wie sollte man in
die Zentrale gelangen! Natürlich wussten auch die Narad und
der gesamte Sicherheitsstab, dass gerade diese Anlage eines
besonderen Schutzes bedurfte. Neuerdings wurde der Bau, in
dem sich die Sendezentrale befand, rund um die Uhr von
einem Kordon umstellt; alle fünf Meter stand nachts ein
Bewaffneter, obwohl es eine Anzahl raffinierte technische
Alarmeinrichtungen gab.
Doch mit einem Mal tat sich ein Weg für Milans Absichten
auf: Die Kabel zu den neuen Masten mussten eingeschleift
werden, und die Schiene, auf die sie mündeten, befand sich
naturgemäß in der Sendezentrale.
Milan wählte zwei zuverlässige Kollegen; denn
selbstverständlich wurde, einschließlich Leibesvisitation,
kontrolliert.
Er präparierte eine gängige, durch Reklame bekannte
Bonbondose, indem er einen doppeltem Boden bastelte, lud in
die untere Etage etliche der Chipsfresser, obenauf
Eukalyptuskullern und bot von diesen während der
Untersuchung dem Kontrolleur an. Und der langte zu. Alles Weitere gestaltete sich verhältnismäßig problemlos:
Die Kabelschiene verlief ohnehin hinter den Steuercomputern,
und es ging eng zu, sodass der zugeteilte Aufpasser längst
nicht alle Handlungen einsehen konnte. Außerdem wurde
diesem der Posten beizeiten langweilig, er begann
umherzuwandern, vernachlässigte so minutenlang seine
Aufgabe.
Milan streute verstohlen gegen Ende der Kabelarbeiten
etliche der silberfischähnlichen Würmchen in unmittelbare
Nähe der Belüftungsschlitze einiger der Prozessoren, und er
staunte, wie die Kleinen plötzlich mobil wurden und flink in
den Gehäusen verschwanden. Dann zog er sich mit seinem
Team zurück. Es würde einige Tage dauern, hatte die Creff ihm erklärt, bis sich Wirkung zeigte. In dieser Zeit würden noch manche Handwerker und andere Leute die Zentrale aufsuchen, sodass es trotz aller Kontrolle schwer fallen dürfte, hegte man den Verdacht auf Sabotage, den Schuldigen
herauszufiltern.
Milan gönnte sich zum Feierabend eine Flasche kroatischen
Roten, verkniff sich jedoch eine Erfolgsmeldung an die
Zentrale – je weniger, desto besser –, ließ sich in Mediatrance
versinken und amüsierte sich später an Thomas Manns „Felix
Krull“. Er war mit dem Tag und sich sehr zufrieden.

15. Kapitel

Alina Merkers’ Wohlbefinden beeinträchtigten zwiespältige Gefühle. Einerseits hatten ihr die Stunden auf Unije, die Stunden mit dem Manne gut getan, insbesondere am Beginn des Treffens, als sie meinte, es sei Milan, ihr Milan. Aber auch jetzt, da sie überzeugt war, er sei es nicht – „wirklich?“, fragte sie sich allzu oft –, bereute sie nichts. Schwerwiegender und beängstigend zugleich aber blieb die unbeantwortete Frage – wenn nicht Milan, wer dann? „Und weshalb, das ist der Punkt, hat er mitgespielt? Ist er lediglich ein Mensch mit rascher Auffassung, der die Gelegenheit am Schopf fasste, ein, naja, halbwegs attraktives Weib ins Bett zu kriegen?“ Diese Unterstellung aber wollte Alina nicht aufrechterhalten; allzu rücksichtsvoll und zartfühlend hatte sich dieser Mann gegeben. Was aber hat dieser Milan mit Milan zu tun – die frappierende Ähnlichkeit…

„Niemals hat der ,alte’ Milan von einem Bruder, einem Zwillingsbruder gesprochen – im Gegenteil behauptet, er habe keine Geschwister.“

Und da, auf den Bett in ihrem Pulaer Hotelzimmer lümmelnd, kam Alina der unheilvolle Gedanke: „Ein Klon! Dieser Milan auf Unije ist ein Klon, eine wohl gelungene Kopie. Jemand hat darauf geachtet, dass die körperliche Entwicklung nicht von der des Unikats abweicht. Und im Wesen?“ Alina fielen die leichten Unterschiede ein, die während des Zusammenseins zu Tage getreten waren.

Alina wusste, dass ihr Milan – in vitro gezeugt – sein Fötusdasein im Inkubator verbracht hatte, wie Millionen andere auch. „Es müsste also gleichzeitig…“ Alina setzte sich erregte auf. „Es müsste also gleichzeitig ein zweites Exemplar Milan… und zwar heimlich; denn seine Eltern hätten wissen müssen, dass ein Bruder… Und wenn sie ihm den Bruder vorenthalten haben? Aber warum hätten sie das tun sollen, was für ein Motiv gäbe es?“

Sie kam ins Grübeln. Doch wie sie auch hin und her überlegte, ein plausibler Grund, weshalb Eltern so handeln sollten, fiel ihr nicht ein. Sie hatte nie den Eindruck gehabt, Milans Verhältnis zu seinen Erzeugern sei schlecht gewesen.

„Also bleibt die heimliche Aufzucht eines Zwillings, und zwar eines äußerlich identischen, was bedeutet, dass die körperliche Entwicklung beider gleich verlaufen muss. Schließlich könnte man den einen zum Asketen, den anderen zu einem Dickwanst machen. Wer steckt mit welchem Ziel dahinter? Und heimlich heißt im Allgemeinen lichtscheu, im Verborgenen, unlautere Absicht.“

Je mehr Alina über das Verhalten des Milan auf Unije nachdachte, desto sicherer wurde sie in der Annahme, dass um die Nowatscheks etwas beängstigend Unredliches geschah. „Er hat mich bewusst getäuscht, indem er vorgab, mich zu kennen. Demnach muss er also von meiner Existenz, von meiner Beziehung zu Milan gewusst, sich auf mich vorbereitet haben. Das Ganze hat aber nur Sinn, wenn vom ,alten’ Milan abgelenkt oder der ,neue’ nicht als solcher entdeckt werden soll.

Milan wollte sich fünfzig Jahre aus dem Verkehr ziehen mit Hilfe dieser verflixten Zweitlebensvereinigung. Und wenn er es getan hat?“

Alina stand auf, wanderte erregt im Zimmer hin und her; sie spürte, der Lösung nahe zu sein, versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Und dann wusste sie: „Dieser hier: das Ebenbild, benutzt die Identität des anderen für ein von langer Hand vorbereitetes falsches Spiel!“ Und plötzlich entstand das Bild ihres Unfalls mit dem Katamaran in ihrem Erinnern mit der Behauptung der Skipperin, auf keinen Fall ein Riff gerammt zu haben. „Ich sollte gar nicht ankommen auf Unije, weil jemand annahm – Milan selber? –, ich entdecke das Falsifikat. Leider gelang das zu spät, Mister Unbekannt. Aber ich bereue nichts, nun erst recht nicht. Es waren zwei schöne Tage. Und als Zugabe nun noch dieses Unglaubliche!

Nun, ich bin reingefallen. Aber noch ist nicht aller Tage Abend, wie Mutter oftmals sagte. Ich werde ihn entlarven! Ich werde…“ Alina setzte sich aufs Bett, ihr Gedankengang stockte. „Gar nichts werde ich“, überlegte sie dann kleinlaut. „Ich habe mit ihm geschlafen, und jetzt komme ich und behaupte, er sei der falsche. Lächerlich würde ich mich machen. Und was habe ich schon für Beweise? Wenn diese Sache von langer Hand vorbereitet wurde, wenn damit ein Ziel, und angesichts des HAARP-Projekts wohl ein bedeutendes, erreicht werden soll, wird man nonchalant mit einer liebeshungrigen Zicke erst recht fertig werden, gleichgültig, was sie vorzubringen hat. Milan, meinen Milan, müsste ich finden…“

Alina barg ihr Gesicht in den Händen. „Komm zurück auf den Boden, altes Mädchen. Wir haben uns getrennt! Milan ist bewusst aus dem gegenwärtigen Leben geschieden. Es ist dies doch ein Zeichen, dass ein Schlusspunkt gesetzt wurde. Also! Mit welch dummer Illusion bist du eigentlich auf die Suche gegangen? Doch nur, weil es so aussah, als habe der Mann sich anders entschieden – in Bezug auf seinen Schlaf, in Bezug auf dich. Nun, es war ein Irrtum. Milan schläft vermutlich doch. Er verschläft seine Vergangenheit, verschläft dich, Alina, endgültig. Was geht es dich an, wenn sich auf Unije Dinge abspielen, bei denen ein falscher Milan eine Rolle spielt, den du mit deinem Besuch womöglich in Schwierigkeiten gebracht hast. Freilich, die Sache ist mysteriös, vielleicht kriminell. Aber wo schon spielen heute menschliche Werte und wohlmeinende Gesetze eine Rolle. Also, Alina! Du hast deine Arbeit, Berlin, der Mars stehen bevor. Dort ist Connan…“

Alina suchte jenen freundlichen Nik. Da sie lediglich sein zugedecktes Boot fand, hinterließ sie ihren Obolus mit ein paar freundlichen Dankeszeilen, und sie schob den Umschlag unter die Persenning.

Trotz aller Vorsätze verbrachte sie den Rest des Tages in Pula arg unentschlossen. Handelte sie richtig, musste sie jenen nicht zur Rede stellen, war sie Milan nicht eine Klärung schuldig, auch wenn er gegenwärtig ohnmächtig… Oder gerade deswegen? Was findet er vor, wenn er aufwacht? Welches Erbe hinterlässt ihm der Zwielichtige auf Unije?

Alina spürte, dass sie trotz aller logischen Erwägungen die Zweifel nicht loswerden würde. Sie rief in Berlin an, in der Hoffnung, eine Entscheidung werde ihr abgenommen. Doch was sie befürchtet hatte, trat ein: Ihre Marspflanzen befanden sich noch in Quarantäne, und nichts würde die deutsche Bürokratie bewegen können, diese etwa vorzeitig abzubrechen. Natürlich wusste Alina, dass die Leute dort mit ihrem Sicherheitsbedürfnis Recht hatten, aber sie befand sich in einem Zustand der inneren Zerrissenheit, dem sie glaubte nur durch konzentrierte sinnvolle Arbeit entrinnen zu können.

Dennoch fuhr Alina tags darauf beizeiten mit dem Luftschiff nach Berlin. Sie hatte das verhältnismäßig langsame Verkehrsmittel gewählt, weil ihr bewusst geworden war, dass ihr bis zur Freigabe der Proben noch viel Zeit blieb und Berlin vielleicht die nötige Abwechslung bot. So versuchte sie bereits die Reise zu genießen. Diese führte über die Alpen, die deutschen Ebenen, bis die europäische Metropole Berlin auftauchte, auf die sich Alina eigentlich gefreut hatte und die von oben mit ihren Türmen und Bahnen, Kanälen, Bauklötzen und roten Dächern wie der Teppich eines entropischen, verrückten Webers aussah.

Gleich am Tempelhofer Luftschiffhafen wurden die Neuankömmlinge darauf aufmerksam gemacht, dass in der Stadt so genannte Zweitklassler umtriebig seien, und es deshalb nicht ratsam wäre, zu Fuß und ohne Begleitung unterwegs zu sein.

Alina schloss sich einer Gruppe von Touristen an, reservierte wie diese Übernachtung, und sie fuhren gemeinsam mit der Vakuumschnellbahn ins Zentrum. Und dann sahen sie: Auf Bahnsteigen und mitunter in den Straßen trieben sich johlende Scharen von vorwiegend jungen, zum Teil maskierten Leuten herum, die Transparente mit fordernden Aufschriften trugen und einen durchaus bedrohlichen Eindruck erzeugten.

Dennoch entschloss sich Alina zu einem Spaziergang, nachdem sie im Hotel „Am Zoo“ ihr Zimmer bezogen hatte. Sie nahm von der Dame an der Rezeption befremdet, jedoch auf dringende Empfehlung, einen elektronischen Pfadfinder mit der Zusicherung an, dass nach dessen Betätigung in spätestens drei Minuten einer der Tausenden im Einsatz befindlichen Stadtwächter zu ihrem Schutz an ihrer Seite sein würde. Alina fand das übertrieben, beinahe lächerlich, erachtete das kleine Gerät in ihrer Tasche jedoch zu dem Zeitpunkt als beruhigend, während sie sich angerempelt, im Körperkontakt mit mehreren Leuten, durch eine lautstarke Gruppe junger Männer zwängen musste, die im Chor grölte: „Geld macht euch gesund und schön, Fäuste lassen beides vergehn.“ Dabei schlugen sie bedrohlich kräftig an Fenster der Restaurants, schnitten den verängstigten Gästen Grimassen, rüttelten an Einfriedungen der Straßencafes und belästigten Passanten, die sich für Läden der gehobenen Preisklassen interessierten. Begleitet aber wurde der Spuk von jungen Männern, die sich an Lärm und Randale nicht beteiligten und allzu brutale Zugriffe verhinderten. Die Stadtwächter, vermutete Alina.

Aber geheuer war Alina das alles nicht, der Spaziergang gründlich verleitet. Sie setzte ihren Ausflug im Liftzug fort, stieg lediglich am Brandenburger Tor für Minuten ab, sah sich die Gedächtniskirche von weitem an und kehrte wenig befriedigt zum Quartier zurück.

Ein ausgezeichnetes Holokonzert mit Werken von Mozart am Abend im Atrium des Hotels versöhnte sie dann einigermaßen für diesen Tag mit der unfreundlichen Stadt. Aber im Grunde war ihr dieses Berlin verleidet. Was sollte sie mit den Tagen, die ihr bis zur Aufnahme der Arbeiten blieben, um alles in der Welt in dieser Umgebung anfangen. Freilich, Angebote gab es unzählige, sicher sehr wertvolle darunter. Doch sie hatte einfach keine Lust, mit Piepser und Wächter zwischen Grölern die Stadt und ihre Highlights kennen zu lernen.

Und schon nach dem Konzert fand sich der Kreisel in Alinas Kopf wieder ein: Milan drehte sich unentwegt um Milan.
Wenn überhaupt eine Chance bestand, dem Zusammenhang zwischen den beiden Nowatscheks auf die Spur zu kommen, dann hieß es wohl, bei Milan eins anzuknüpfen. Doch sosehr Alina ihre Erinnerung auch strapazierte, einen konkreten Ansatz fand sie nicht. Einigermaßen überrascht stellte sie fest, dass ihre Kenntnisse über persönliche Daten Milans, über seine Herkunft, seinen Lebenslauf – trotz der gemeinsamen Jahre – mehr als dürftig zu Buche schlugen. Sie wusste vom Inkubator, davon, dass sich die Mutter beizeiten von einem Familienleben distanziert und der Vater sich mehr mit seiner Flussschifffahrt als mit dem Sohn befasst hatten. „Die einzige vielleicht verwertbare Spur führt über die Zweitlebensvereinigung in irgendeine geheime Langzeitschlafstätte“, spekulierte Alina. Mittlerweile, je länger sie grübelte, umso überzeugter war sie, dass Milan seinen ursprünglichen Plan, sich für fünfzig Jahre aus der Gesellschaft zu verabschieden, wahr gemacht hatte. Aber wenn – was Alina annehmen musste – die Vereinigung nicht mehr existierte, war es ein fast aussichtsloses Unterfangen, in der Kürze der ihr noch verbleibenden Zeit etwas herausfinden zu wollen. Denn ob sie sich während der Arbeiten in Berlin Recherchen und Reisen erlauben konnte, blieb zumindest sehr fraglich.
In Alinas Gedanken schob sich das Gespräch mit Connan, in dem er von seinem Kontakt mit Leuten berichtet hatte, die eine automatisierte Station für Dauerschläfer in einem Bergwerk… Der Einfall faszinierte Alina. Vielleicht ließen sich die noch verbleibenden freien Tage doch dazu nutzen, das Dunkel um die Nowatscheks wenigstens ein bisschen aufzuhellen.
Aber soviel sie auch grübelte, der Name das Ortes, in dessen Nähe sich Connans Tätigkeit abgespielt hatte, fiel ihr nicht ein. Erst nach einigen Stunden am Netz konnte Alina die ehemaligen Salzbergbaugebiete lokalisieren, und dann stieß sie auch auf den Namen, den Connan genannt hatte: Bacherode!
Auf einmal hatte Alina es eilig.
Eine offizielle Fluglinie zu diesem Teil Deutschlands gab es nicht. Sie mietete tags darauf einen verhältnismäßig teuren Taxilifter und ließ sich am Rande des verschlafenen, in einer Hügellandschaft gelegenen Städtchens auf einer Wiese absetzen, auf der sie tatsächlich mehrere Kühe misstrauisch musterten und dann mit einigem Hochmut vor dem Luftschiff gemach flüchteten.
Während des beim Piloten erbetenen langsamen Niedergangs des Schiffes machte Alina östlich der Siedlung neben einem fast kahlen, rötlichen, unnatürlich aus der Ebene ragenden Berg einen stattlichen Komplex alter Ziegelgebäude aus, aus denen zwei turmähnliche Metallgerüste aufragten, die Alina – nach ihren neuesten Kenntnissen aus dem Netz – unschwer als nostalgische Fördertürme einordnete. Ein Bergwerk – das Bergwerk!
Und in dem einen der Gittertürme drehten sich die Seilscheiben, was wohl bedeutete, dass dieses Bergwerk noch für irgendeinen Zweck funktionierte. Düngesalz aber wurde schon seit Jahrhunderten nicht mehr bergmännisch gewonnen.
Alina gelangte von der Wiese auf eine Straße, die direkt auf das Werk zu, an diesem vorbei, in die Stadt führte.
Am offenen Tor der Anlage änderte Alina ihren ursprünglichen Plan, zunächst ein Quartier zu suchen. Sie passierte ein unbesetztes Pförtnerhaus, befand sich auf einem verhältnismäßig engen, menschenleeren Hof, der, von renovierungsbedürftigen, jedoch nicht verwahrlosten Gebäuden umgeben, von ehemals offenbar begüterten Zechenherren Zeugnis ablegte. Aber nur Augenblicke hielt sich Alina mit derartigen Überlegungen auf. Sie steuerte auf das Gebäude zu, aus dessen Dach der Turm mit den sich drehenden Seilrädern ragte. Dass dieses Bergwerk ferngesteuert arbeitete, glaubte Alina nicht. Also musste sich dort, wo sich etwas bewegte, ein Mensch befinden.
Sie trat in eine dämmrige Halle. Ein alter Mann stand an einem dem Tor gegenüberliegenden Gatter, das sich gerade öffnete und drei Leute in Arbeitskleidung und mit Schutzhelmen auf den Köpfen entließ. Sie grüßten den, der sie empfangen hatte, mit „Glück aufl“, musterten die herangetretene Frau ein wenig erstaunt und entfernten sich.
„Hallo!“, grüßte Alina den Zurückbleibenden, der die Schutzgatter des Förderkorbes schloss.
„Glück auf!“, antwortete der Mann, ohne sich der Besucherin zuzuwenden.
„Das ist das Bergwerk Bacherode?“, sagte Alina mehr als Feststellung denn Frage.
Der Mann drehte sich um, musterte die Frau und brummte: „Unbefugten ist der Zutritt hier verboten. Es ist Bacherode. Und?“ Er wandte sich dem Ausgang zu, an einem Kasten betätigte er einige Schalter, und in ein klobiges Telefon hinein sagte er: „Fertig, Erwin. Ich mach Feierabend.“ Und er ging der Tür zu, ohne sich weiter um Alina zu kümmern.
„Ich habe eine Frage“, rief sie.
Der Mann hielt ihr die Tür auf. Im hellen Tageslicht blickte Alina in ein uraltes, von unzähligen Falten durchfurchtes Gesicht.
Er ließ Alina vorbei, verschloss sorgfältig die Tür, wandte sich der Frau dann voll zu und fragte: „Na, was hast du denn auf dem Herzen, Mädchen. Schieß schon los. Hast ja gehört, ich hab Feierabend.“ Aber es klang nicht unfreundlich, wie er es sagte. Offenbar war die Augenscheinnahme im Hellen positiv ausgefallen.
Auf einmal wusste Alina nicht, wie sie anfangen, was sie fragen sollte. Und dann platzte sie heraus: „Schlafen da unten Leute?“
„Was ist?“ Er sah sie mit gerunzelter Stirn an, und es war seinem Gesicht deutlich abzulesen, was er dachte. Und dann erfragte er es auch: „Alle beisammen hast du!?“
Alina biss sich auf die Lippen. „Aber eben kamen doch Leute von unten“, sagte sie naiv. „Da muss doch etwas sein.“
„Etwas ist da auch“, sagte er und lächelte. „Es schläft auch was und wird hoffentlich nicht munter. Aber keine Leute. Da hat dir einer einen Bären aufgebunden, wenn du das glaubst.“
„Ich habe einen Bekannten, der hat vor ein paar Jahren hier gearbeitet…“, erläuterte Alina nachdenklich. „War es wirklich hier?“, dachte sie zweifelnd. „Aber der Name!“
„Gibt es noch ein anderes Bacherode mit einem Bergwerk?“, fragte sie.
„Nein. Weit und breit ist alles weg, geschleift. Wir hier sind noch die Einzigen, weil wir dieses Lager haben.“
„Was für ein Lager?“
„Hast du die Warntafeln nicht gesehen? Strahlmüll. Und soeben waren die Kontrolleure da. Ab und an wird auch noch neuer Dreck gebracht. Aber keine Angst, es ist harmloses Zeug, Gelumpe aus der Medizin meist. Ich mache hier den Anschläger – als Aushilfe.“
Als Alina verständnislos blickte, erklärte er: „Der, der die Seilfahrt steuert, dem Fördermaschinisten, was der Erwin ist, die Signale gibt.“
Alina folgte einer Eingebung: „Schon lange?“, fragte sie.
„Hundert Jahre bin ich Anschläger“, übertrieb er. „Hier helfe ich erst seit zwei Jahren aus. War im Erz, bis zuletzt bei der Verwahrung“, fügte er hinzu. „Zum Sohn bin ich gezogen.“
Alina atmete auf. Es gab noch Hoffnung. „Wer könnte wissen, was vor dem war?“
„Na, Erwin vielleicht, der ist schon ewig hier, er macht die Seilfahrt für das Lager.“
„Kann ich den sprechen?“
„Da drüben.“ Er deutete mit einer Kopfdrehung auf einen flachen Anbau, in den die armstarken Förderseile von den Umlenkscheiben am Turm schräg durch eine kleine Maueröffnung hineinführten. „Also, mach‘s gut. Ich hab Feierabend“, wiederholte er und ging davon.
Der mit Erwin Benamste stand an seiner abgeschalteten imposanten Maschine. Ein riesiges Speichenrad, das, halb in den Boden eingelassen, vom Seil umschlungen, den Förderkorb trieb. Poliertes Messing und Stahl blitzten, konkurrierten mit dem strahlenden Rot der massiven Radspeichen. Große, meist runde Messskalen hinter Glas ergänzten das Bild. Das alles vermittelte Hochachtung gebietende solide museale Ingenieurkunst.
Erwin putzte mit einem Lappen an den Kugeln des Fliehkraftregulators herum, unterbrach diese Tätigkeit jedoch, als Alina eintrat und blickte ihr erwartungsvoll entgegen.
Er hatte die Siebzig wohl ebenfalls überschritten, hatte eine Vollglatze, hielt also von einer Genbehandlung nichts oder konnte sie sich nicht leisten. Flinke Augen standen über dem runden, rosigen Gesicht, und seine Zähne waren so weiß und regelmäßig, dass Alina deren Echtheit bezweifelte.
„Hallo, ich bin Alina Merkers – Glück auf! – eine prächtige Maschine.“
Erwin blickte ein wenig irritiert und begann erneut zu putzen. „Hast du dich verlaufen?“, fragte er. „Glück auf! Unbefugten ist…“
„Ich weiß. Dein Kollege Anschläger… Du kennst, sagt er, den Betrieb hier länger? Darf ich dich etwas fragen?“
„Hm“, brummte Erwin. „Ich wollte eigentlich nach Hause.“
„Darf ich dich begleiten?“
„Meinetwegen – wenn du nichts Besseres vorhast, als mit einem alten Zausel…“
Sie schritten zunächst schweigend am Rande einer Asphaltstraße dem Ort zu.
„Dort wohne ich.“ Erwin zeigte auf eine entfernte Siedlung linker Hand am Rande der Stadt. Mit dem Heimkommen hatte er es offensichtlich nicht so eilig, wenn der Schlenderschritt, den er vorlegte, Maßstab war.
„Eine Halde?“, fragte Alina, als sie an dem steilen, unnatürlichen rötlich-kahlen Berg neben dem Werk vorüberkamen, an dessen Südflanke flächendeckend Solarpaneele glänzten.
„Eine Halde. Aber das war ‘s sicher nicht, was du fragen wolltest. Fang schon an, wir sind bald da. Was also willst du wissen?“
„Dein Kumpel erzählte mir vom Strahlmülllager. Hält man deswegen das Bergwerk fast dreihundert Jahre in Stand – oder ist noch etwas anderes da unten?“
Erwin verhielt eine Sekunde den Schritt, musterte seine Begleiterin scharf mit verkniffenen Augen. „Wie kommst du auf eine solche Frage?“
Alina ärgerte sich. Sie glaubte aus dem Gesichtsausdruck des alten Mannes Ablehnung zu lesen. War sie zu direkt, oder gab es gar etwas, worüber er nicht sprechen wollte?
„Es ist jetzt nichts anderes mehr da unten.“ Erwin beschleunigte den Schritt.
„Jetzt nicht mehr…“, sann Alina laut seinen Worten nach. „War aber!“, fügte sie hoffnungsvoll hinzu und sah den Mann Antwort heischend von der Seite her an.
„Klar“, entgegnete der verschmitzt lächelnd. „Kalisalz wurde da unten abgebaut. Viel.“
Obwohl sich Alina nicht zum Scherzen aufgelegt fühlte, musste sie lachen. „Schau an“, entgegnete sie. „Das hätte ich nicht gedacht. Aber im Ernst: Hat sich nicht jemand – so vor vier, fünf Jahren noch – für die Grube interessiert? Pass auf – ich will nicht drum rum reden – ich habe einen Bekannten, der hat um diese Zeit hier gearbeitet.“
„So, hat er das, dein Bekannter. Zu der Zeit war der Schacht eins noch intakt. Seit der nicht mehr befahrbar ist, ist da nichts mehr.“ Der Alte sprach zögernd und beschleunigte den Gang in eine Geschwindigkeit, die Alina jemandem in seinem Alter nicht mehr zugetraut hätte.
„Und warum ist er nicht mehr befahrbar, der Schacht eins?“
„Na, kannst du dir das nicht denken? Schau dich um. Eingestürzt ist er.“
Alina hielt den Alten am Arm fest, zwang ihn so, stehen zu bleiben. Sie blickte dem Erstaunten ins Gesicht und fragte: „Und was war dort, bevor er – eingestürzt ist?“
Der Mann schüttelte ihre Hand ab, schritt, diesmal langsamer, weiter. „Lass mich in Frieden“, murmelte er, setzte dann jedoch versöhnlicher hinzu: „Irgendwelche Spinner wollten so was wie eine Fabrik einrichten. Frag doch deinen Bekannten, wenn er dabei war. Ich hab immer nur die Maschine bedient, heute nur noch gelegentlich, weil sich die Aufsicht keine Stammmannschaft leisten will. Also, hat dein Bekannter sein Taschenmesser unten liegen lassen – oder was?“
Alina frohlockte innerlich. Sie befand sich auf der richtigen Spur, kein Zweifel! Der Alte wusste mehr, und – bei dem Gedanken wurde ihr siedend heiß – der Schacht war nicht mehr befahrbar. Dabei befand er sich keine hundert Meter von dem entfernt, aus dem gerade noch drei Leute gekommen waren.
„Und warum steht der andere Schacht noch?“ Sie setzte ihren Gedanken in die Frage um.
„Na, weil man über ihn zum Lager kommt. Der wurde besser in Stand gehalten. Das ist doch logisch, oder? So, hier muss ich lang.“
Von der Straße zweigte nach links ein Weg ab, der in die nun nahe Siedlung führte.
Alina änderte die Taktik: „Kannst du mir ein Quartier empfehlen in Bacherode?“
„Du willst hier bleiben?“, fragte er erstaunt.
„Eine schöne Gegend, ein wenig ausspannen kann nichts schaden.“
„Ha“, rief der Alte. „Mut hast du. Seit Monaten gehören wir zum Gebiet, das die Bison-Bande kontrolliert. Und reisende Nichtstuer, so wie du… Ich weiß nicht, es ist nicht ungefährlich. Und ein Hotel gibt es schon lange nicht mehr, seit diese großen Rollhouses unterwegs sind. Die sind auch viel sicherer. Aber wem sage ich das, oder kommst du vom Mond?“
„So ungefähr – und was kann ich da machen, wenn ich trotzdem bleiben will?“
„Zahlungsfähig bist du?“
„Es geht.“
Der Alte setzte eine wichtigtuerische Miene auf. „Wenn deine Ansprüche nicht zu hoch sind… Du kannst bei uns übernachten.“
Das war mehr, als Alina erhofft hatte. Des Alten Hinweise auf Unsicherheiten in der Gegend beeindruckten sie nicht besonders. Vielleicht hatten sie auch das friedfertige Zusammenleben auf dem Mars und die Zeit dort desensibilisiert. Wenn den täglichen Nachrichten zu trauen war, passierten Überfälle am laufenden Band mit rasant zunehmender Tendenz. Dennoch, der feste Vorsatz blieb. Alina wollte die paar ihr verbleibenden freien Tage nutzen, nun, da sie sich an einem Ort des Geschehens wähnte, so viel wie möglich über das Geschehen um das Bergwerk zu erfahren. Und wenn nicht von diesem Erwin, dann von anderen. Und das hieß, in Bacherode zu verweilen.
„Ich habe keine Ansprüche“, versicherte sie. „Also – gehen wir.“ Und sie bog in den Weg ein, den Erwin gewiesen hatte.

Erwin Gens entpuppte sich als durchaus geschäftstüchtig. Alina zahlte für die kleine Einliegerwohnung im ältlichen Einfamilienhaus fast das Anderthalbfache vom Zimmerpreis in Berlin. Natürlich tat sie es ohne zu murren und so, als ob sie in Geld schwämme. Und abends, bei einem üppigen, von ihr besorgten Mahl und drei Flaschen Rotwein, an deren Leerung sich Erwins Frau kaum beteiligte, darüber aber alsbald einnickte, kam Alina auf ihre Kosten: Erwin wurde redselig, ja gleichsam angeberisch mitteilungsbedürftig, und Alina hoffte, dass sie am Ende der abendlichen Unterhaltung genauso viel wusste wie er. „Um so ein mächtiges Grubengebäude ist es doch jammerschade, dass es, wenn der Abbau nichts mehr bringt, einfach abgeworfen wird“, hatte sie ihr Fragespiel begonnen.

„Nein, nein“, widersprach Erwin. „So ist ‘s hier nicht gelaufen. Was mein Großvater war, der hat erzählt, als er zur Schule ging, haben sich die Leute gegen das Fluten der Grube gewehrt, weißt du, mit Lauge wird das gemacht, weil Wasser das Salz lösen täte. Dann, hat er erzählt, wurde bereits das Lager für das Dreckszeug eingerichtet – am Schacht zwei. Später, das weiß ich wieder von meinem Vater, wurde sogar eine Halle aufgefahren, in der sie solche Konzerte und andere Veranstaltungen gemacht haben. Das war am Schacht eins. Ein paar Jahre lang wurden sogar Kranke, die ‘s mit der Luft hatten, für einige Zeit dort unten behandelt…“

Es gelang Alina nur unzureichend, ihre Ungeduld zu bezähmen. Sie hütete sich jedoch, Erwins Redefluss zu unterbrechen. Mit jedem Schluck Rotwein schien der alte Mann gesprächiger zu werden.

„Als ich in die Schule ging“, fuhr Erwin fort, „kamen dann die großen Herren, die erst dieses Laboratorium einrichteten, später sogar eine Fabrik, so ein Quatsch, aufmachen wollten… Tja…“ Der alte Mann drehte sein Glas. „Da war ich noch nicht dabei.“ Sein Mitteilungsbedürfnis schien befriedigt zu sein. Er trank und lehnte sich zurück. „In der Molkerei habe ich dann gelernt und bis zur mageren Rente geschuftet. Siehst ja, was aus unsereinem geworden ist. Im Monat zwei, drei Mal die Maschine, was bringt das schon zusätzlich.“

Alina wurde nervös. Das konnte es nicht gewesen sein. „Was haben die gemacht, die später die Fabrik einrichten wollten? Weißt du das?“

Erwin Gens schüttelte den Kopf. „Was man eben so hört. Sie haben mit denen aus dem Sanatorium zusammengearbeitet. Kein Hiesiger war dabei. Sogar Bergleute haben sie von woanders hergeholt, wenn unten ein neuer Raum… Aber wozu willst du den alten Kram wissen. Ich denke, wir gehen ins Bett. Meine Alte hat‘s eh schon erwischt.“ Er deutete mit dem Kopf auf seine Frau, die fest eingeschlafen in der Ecke des Sofas kauerte.

Alina gab nicht auf. „Warum haben die ihre Arbeiten eingestellt?“
„Ach, was weiß ich!“ Erwin wurde leicht unwillig. „Es ist eine Sauarbeit und teuer dazu, einen so alten Bau fit zu halten. Vielleicht ist ihnen das Geld ausgegangen.“
„Und du in deinem Nebenjob hast nur am Schacht zwei gearbeitet?“, bohrte Alina.
„Ach, i wo!“ Erwin biss sich auf die Lippen, trank sein Glas leer und schickte sich an, aufzustehen. „Es gibt in der Umgebung noch zwei Wetterschächte… paar Kilometer… je nachdem, wie jemand einfahren wollte oder Material in den Berg gebracht wurde – eben wo man einen Maschinisten brauchte.“ Seine Rede klang unwillig, als ob ihm die Fragerei mit einem Mal lästig würde.
„Und am Schacht eins?“
„Auch.“
„Wann ist der eingestürzt?“
Erwin schwieg, er blickte unruhig auf der Tischplatte hin und her und versuchte ein zweites Mal sich abstützend aufzustehen.
„Mein Bekannter hat vor etwa fünf, sechs Jahren hier gearbeitet, da war noch tüchtiger Betrieb“, behauptete Alina.
„Am Schacht eins?“, fragte Erwin kleinlaut. Er zog mit dem Zeigefinger zwei kleine Rotweinpfützen auf der Kunststoffdecke zusammen.
„Am Schacht eins, ja!“, log Alina. Natürlich wusste sie nicht, wo Connan O’Bennet seinerzeit tatsächlich gearbeitet hatte. Und ein leiser Zweifel bestand noch immer, ob – bei der Dichte der damaligen Bergwerke – sie überhaupt am richtigen Objekt recherchierte.
„Also – du gibst ja doch keine Ruhe – sie haben etwas Neues angefangen zu dieser Zeit, irgendeine automatische Station. Mehr weiß ich nicht. Wenn du den ganzen Tag an der Maschine sitzt, hörst und siehst du nichts außer den Signalen vom Anschläger an der Hängebank…“
Alina zog das Gesicht in fragende Falten.
„Das ist, wo du Rudolf getroffen hast, am Übertage-Füllort.“
„Ja und – was war weiter!“
„Sie haben allerlei Apparate hinuntergeschafft; eines Tages war Schluss mit den Arbeiten. Dann später kam noch ein Transport langer Kästen…“
„Und dann war Ruhe?“
„Im Prinzip, ja.“
„Was heißt im Prinzip?“
„Ab und an haben ein paar Leute kontrolliert, wie sie sagten, blieben zwei, drei Tage hier.“
„Bis er einstürzte!“
„Wer?“
„Na, der Schacht eins.“
„Ja, bis er einstürzte.“
„Wann war das?“
„Lass mich in Frieden.“
„Sag, wann!“
Erwin wuchtete sich am Tisch empor, offenbar nun endgültig gewillt, die Befragung zu beenden. „Er ist nicht eingestuft, verdammt nochmal. Sie haben ihn gesprengt. Bist du nun zufrieden?“
Alinas hatte sich in den letzten Minuten des Gesprächs zunehmend eine Erregung bemächtigt. Erwins Schilderung stimmte mit der Connans erstaunlich überein. Aber mit der letzten Aussage hatte Alina nicht gerechnet. Sie war aufgesprungen, hatte den Mann an den Schultern gepackt und gerufen: „Gesprengt, sagst du?“
„Na, na!“ Erwin schwankte ob des Alkohols und der plötzlichen körperlichen Attacke.
„Wann war das, und haben sie vorher noch etwas heraufgeholt, ist der Zugang endgültig – verschüttet?“ Alina hielt den Mann noch immer an den Schultern gepackt.
„Langsam, langsam!“ Erwin wand sich frei. „Vor einem Jahr etwa – drei Mann, nachdem längere Zeit Ruhe war, auch keine Kontrolle mehr. Rausgeholt ist nichts. Was war noch: Nein. Es gab natürlich eine Verbindung zwischen den Schächten. Auch die ist zu. Aber was regst du dich auf. Eines Tages wäre er doch zusammengebrochen. Gute Nacht.“ Er gähnte. „Frühstück um neun.“